Ein Spiel zwischen Nähe und Distanz:Im Rhythmus der Gemeinschaft

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In seiner Tölzer Capoeira-Gruppe lehrt Chris Maier nicht nur den brasilianischen Kampftanz, sondern auch afrobrasilianische Musik und Kultur

Von Veronika Ellecosta, Bad Tölz

Chris Maier steht barfüßig am Rand der blauen Matten und schlägt auf eine Rahmentrommel mit Schellenkranz. Dass das Musikinstrument Pandeiro heißt, wird er später erklären. Dazu singt er auf Portugiesisch. Seine Melodie begleitet eine Handvoll Männer und Frauen im Raum, tänzelnd gleiten die Körper aneinander vorbei. Es ist ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, das hier immer in Zweierkonstellationen zu den Klängen brasilianischer Volksmusik gespielt wird. Immer wieder holt Chris Maier seine Schützlinge zu sich, um den Text zu erklären, aus dem Portugiesischen zu übersetzen. Am Ende stimmen alle ein und bewegen sich wieder anmutig durch den Saal.

Chris Maier ist Contramestre des Capoeira. Im Siam Gym in Bad Tölz leitet er die hiesige Capoeira-Gruppe, die zum CSV Starnberg gehört. In der Gemeinde praktiziert man Capoeira eigentlich schon länger, 2011 hat sich die lose Gruppe von Begeisterten aber offiziell formiert, und sich den Namen Ligando Mundos gegeben, was soviel bedeutet wie "Welten verbindend". Verschiedene Lebenswelten zusammenbringen will die Gruppe, denn die soziale Komponente ist im Capoeira wichtig. Gemeinsam zu singen, zu tanzen und Capoeira als Form der Kampfkunst auszuüben, das versteht Maier unter gemeinschaftsstiftend.

Synchrone Akrobatik: Beim Capoeira bewegen sich die Sportler im Tölzer Siam Gym nicht nur im Rhythmus der Musik, die Trainer Chris Maier anstimmt, sondern auch in Harmonie mit dem Gegenüber. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Community betont Chris Maier immer wieder. Ihretwegen ist er selbst auch beim Capoeira geblieben. Eigentlich, erzählt er, war er ja schon immer im Kampfsport verankert. Mit fünf hat er sich im Judo versucht, die Wettkampfseite kennengelernt. Mit der Jugend haben sich Werte und Ziele geändert, und Chris hat sich dem Capoeira zugewandt. Denn Wettbewerbe gibt es im Capoeira selten, wenn überhaupt werden sie nur gruppenspezifisch ausgetragen. "Viele glauben, dass man Capoeira nicht in so ein Korsett stecken kann, weil es viele künstlerischen Elemente beinhaltet. Capoeira ist viel mehr als individueller Dialog zwischen zwei Menschen zu verstehen", sagt er.

Gelernt hat Chris Maier beim großen Meister Martinho Fiuza in München, einem der ersten Capoeiristas in Europa. Dreizehn Jahre war er unter seinen Fittichen, bis er die Erlaubnis bekommen hat, selbst zu unterrichten. Capoeira folgt nämlich einer strengen Rangordnung, an deren Spitze der Mestre, Meister, steht, gefolgt vom Contramestre, wie Chris einer ist. Wer Meister werden will, muss ein weites Stück Weg zurücklegen: Etwa 30 Jahre dauert es, bis man ganz oben angekommen ist.

Seit der Meister Martinho Fiuza 1972 in München angefangen hat, Capoeira zu lehren, hat sich der Sport in Europa immer größerer Beliebtheit erfreut. In ganz Bayern bis in die Alpen gibt es heutzutage Ableger und kleine Gruppen. 120 Kinder und 40 Erwachsene sind es Maier zufolge, die allein in der Starnberger Gruppe trainieren. "Die Leute hier sind sehr offen und geben richtig Gas. Man merkt, dass sie Lust auf Capoeira haben", sagt er. Vor allem der große Andrang unter Kindern freut ihn. Alle Kinder, sagt er, können sich im Capoeira verorten: Zwischen Gesang, Tanz und Sport will man den Nachwuchs ganzheitlich fördern. Auch blutige Anfänger kommen unter, sie erhalten in den Kursen zusätzlich Einzelübungen. Von der Kleinsten bis zum reiferen Klientel seien alle willkommen, wiederholt Chris Maier. Die Besonderheit am Capoeira sei nämlich sein inklusiver Charakter. "Menschen entwickeln und entdecken sich in jeder Lebensphase anders. Egal, in welcher emotionalen Phase ich selbst war, Capoeira hat mich immer begleitet."

Schließlich ist es soweit, Chris Maier schlüpft in weiße Kleidung - Weiß ist die Farbe des Capoeira - und läutet das Training mit seinem Pandeiro ein. Die Capoeiristas aus Tölz wärmen sich auf, wieder geschmeidige Bewegungen, wieder Klänge brasilianischer Volksmusik. Die Community hat sichtlich Spaß an der Bewegung.

Chris Maier glaubt, dass sein Sport die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft deckt: in einer Zeit des Individualismus, sagt er, die doch von der Gemeinschaft mehr und mehr abgetrennt sei. "Zusammen Musik zu machen und zu tanzen sind eigentlich archaische Sachen, die momentan etwas verloren gegangen sind", sagt er. "Ich denke, wir können alle ein bisschen mehr spielen." Und dann wendet sich dem Pandeiro zu.

© SZ vom 24.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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