Dunkle Historie:Fabriken des Todes

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Wer die Entstehungsgeschichte Geretsrieds dokumentiert, spürt den "Schatten der Vergangenheit": Die Produkte der NS-Munitionswerke forderten unzählige Menschenleben

Von Wolfgang Schäl, Geretsried

Die Entstehungsbedingungen der Stadt Geretsried zu dokumentieren ist ein überaus zeitraubendes und mühsames Unterfangen, und es ist gewiss kein angenehmer Einstieg in dieses früheste Kapitel der Stadtgeschichte. Da gibt es keine hübschen Ausgrabungen, keine Römersiedlung, keine Relikte einer blühenden Kultur, stattdessen stößt man auf die düsteren Zeugnisse einer beispiellosen Gewaltherrschaft.

Auf die fatalen Ursprünge der Stadt wies jetzt Wolfgang Pintgen, der Sprecher der Arbeitsgruppe Historisches Geretsried hin, die in der nahezu vollbesetzten Aula des Gymnasiums ihre neueste Publikation im Rahmen der "Geretsrieder Hefte" vorgestellt hat: den zweiten Band über die beiden Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst. Diesmal geht es um die Bereiche Planung und Bau. Vor acht Jahrzehnten, so Pintgen, hätten sich in dem Waldgelände noch Hasen und Rehe getummelt, bis die Nationalsozialisten dort von 1938 an, streng getarnt mitten im Wald, die beiden monumentalen, weitverzweigten Rüstungswerke der Dynamit Actiengesellschaft (DAG) und der Deutschen Sprengchemie (DSC) aufbauten.

Bis zu 8000 Arbeiter waren in den Anlagen beschäftigt. Das Luftbild zeigt die dazu gehörende Feuerwache. (Foto: privat)

Der jüngste, aufwendig gestaltete Hochglanzband der Geretsrieder Hefte, der 105 Seiten umfasst, soll nicht nur eine detaillierte chronologische Schilderung der damaligen Entwicklung sein, sondern auch ein Nachschlagewerk, besonders für künftige Generationen. Orientierungshilfen bietet dabei eine ausführliche Zeittafel mit Quellenangaben. Informativ ist das Heft mit der Bezeichnung "Ausgabe 7.2" nicht zuletzt dank seiner geradezu aufsehenerregenden Bildbeiträge: Luftaufnahmen der Aliierten vom Lager Buchberg, entstanden im Jahr 1945, Bilder vom Bau des DAG-Kraftwerks II, vom Güterbahnhof Wolfratshausen-Süd, von dem aus die gefährlichen Güter in Richtung München transportiert wurden, außerdem Skizzen von Anlagen zur Herstellung und Lagerung von Säuren, Pressengebäude, Wohnbaracken und Lagepläne. Die Archivaufnahmen und Grafiken vermitteln eine abschreckende, trostlose Atmosphäre, aber auch eine sehr konkrete geografische Vorstellung, in welchem Teil der heutigen Stadt welche Einrichtungen und Fabrikationsanlagen angesiedelt waren.

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(Foto: Hartmut Pöstges)

Walter Holzer...

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(Foto: Hartmut Pöstges)

...und Gerhard Aumüller vom Arbeitskreis Historisches Geretsried berichteten von den Anlagen, die mitten im Wald lagen.

Abgerundet wird das Bild der Munitionsfabriken durch Aussagen von Zeitzeugen wie beispielsweise von Johann Herbrik. Dessen Firma wurde 1941 mit der Installation von Blitzschutzanlagen im Wolfratshauser Forst beauftragt, die für die Munitionsfabrik wegen der permanenten Explosionsgefahr von elementarer Bedeutung war. Weil es gegolten habe, jede Form von Funkenbildung zu verhindern, habe man jedes Gebäude dreifach sichern müssen.

Bei alledem sei einem nicht nach Stolz zumute, sagte Gerhard Aumüller, Co-Autor und Mitglied des Projektteams, dem außer ihm selbst jetzt noch Walter Holzer angehört - Franz Rudolf ist im vorigen Jahr ganz unerwartet gestorben. Aumüllers Empfinden bei der Archivarbeit, in die er kurzfristig nach Rudolfs Tod eingesprungen war: "Da läuft der Schatten der Vergangenheit auf uns zu". Er sei "erschrocken, mit welchem Unmengen an Munition diese beiden Fabriken dazu beigetragen haben, Millionen Menschen in Ost und West zu verletzen und zu töten". Der Angriffskrieg der Nazis, darüber müsse man sich klar sein, sei von hier aus massiv unterstützt worden, auch wenn die beiden Fabriken in ein reichsweites Firmennetz von fast 40 ähnlichen Unternehmen eingebunden und ohne eigene Entscheidungskompetenz gewesen seien. Welche Dimensionen die hochkomplex geplanten Rüstungswerke erreichten, beschrieb Aumüller mit einigen Zahlen: allein 30 Kilometer Gleisanlagen wurden gebaut, 80 Kilometer Versorgungsleitungen sowie Unterkünfte für bis zu 8000 Arbeiter. Gigantisch waren auch die Kosten für die beiden Geretsrieder Munitionsfabriken: 182,9 Millionen Reichsmark. Deutschlandweit komme man zusammengerechnet nach heutigen Erstellungskosten sogar auf einen Betrag von geschätzt mehr als 50 Milliarden Euro, sagte Aumüller. Dies mache einen auch heute noch sprachlos.

Im Wolfratshauser Forst entstanden die Produktionsbereiche der Deutschen Sprengchemie DSC. Die Karte zeigt die Standorte. (Foto: Hartmut Pöstges)

Gleichwohl ist es nach Überzeugung des Autorenteams, "spätestens jetzt geboten, mit dem Rechnen aufzuhören, wenn man sich die Menschenleben vor Augen hält, die durch die Produkte der Munitionsfabriken verloren gingen, nicht zu vergessen die finanziellen Aufwendungen für Verwundete, für die Versorgung der Invaliden und der Hinterbliebenen". Die im Laufe der Recherchen gewonnenen Erkenntnisse "haben uns sehr erschüttert", heißt es in einer Schlussbetrachtung im Heft 2. Umso mehr hat man sich nach Aumüllers Worten entschlossen, mit dem Thema, also mit den Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie mit den Gebäuden und ihren Funktionen und Besonderheiten, sachlich umzugehen.

Das Heft ist im März mit einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen, kostet zehn Euro und ist im Rathaus erhältlich, außerdem in der Buchhandlung Ulbrich, im Stadtmuseum und im Geltinger Bürgerladen. Ein Ergänzungsband "7.2a" mit einer genauen Beschreibung der Wohnanlagen soll heuer im November folgen.

© SZ vom 22.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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