Bad Tölz:Atemraubender Auftakt

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Meister der Klangfarben und der Reaktionsschnelle: Das Quatuor Modigliani aus Frankreich eröffnet den ersten Tölzer Klassik-Gipfel im Kurhaus mit einem Konzert, das Maßstäbe setzt. (Foto: Manfred Neubauer)

Das "Quatuor Modigliani" demonstriert beim ersten Tölzer Klassik-Gipfel, wie es in Sekundenbruchteilen Atmosphäre erzeugen und ändern kann. Ravel wird zum Höhepunkt des Abends

Von Paul Schäufele, Bad Tölz

Es gibt eine Regel der klassischen Rhetorik: Man darf nicht alles betonen, denn wer alles betont, betont gar nichts. Naheliegend, dass das auch für klassische Musik gilt. Und doch hört man viele Interpretationen, die in jeder Phrase ans Maximum gehen, aus jedem Takt den vollen Ausdruck schöpfen wollen. Das Quatuor Modigliani ist weit darüber hinaus. Die vier Franzosen haben eine Kunst des Streichquartetts perfektioniert, in deren Zentrum der faszinierende Wechsel zwischen Nähe und Ferne, Präsenz und Entzug, Zeigen und Verschleiern steht. Dem ersten Tölzer Klassik-Gipfel, einem Festival der Streichquartette, bescheren sie so einen glänzenden Auftakt.

Mit Mozarts B-Dur-Quartett (KV 458) hat sich das Quatuor Modigliani ein unkompliziertes Entrée-Stück ausgesucht. Heiter und mit robusten Akzenten rollen die Triolen, die dem Werk zu seinem Beinamen "Jagdquartett" verholfen haben. Fast schon zu geschmackvoll kommt der Kopfsatz daher, bis im Durchführungsteil eine Passage in f-Moll die Szene verdunkelt. Denn das gehört zu den Qualitäten des Quatuor Modigliani: blitzschnelle Änderungen der Atmosphäre. Ein Schalter wird umgelegt und schon ändert sich die Beleuchtung. Bei Mozart kommt das noch nicht vollständig zur Geltung. Hier zeigen die vier Musiker ihre im Laufe von 20 Jahren erarbeitete Balance, ihre intellektuelle Raffinesse, die sich im zweiten Satz nicht dazu hinreißen lässt, einfach die rhythmischen Skurrilitäten überzubetonen oder den Adagio-Satz zur Instrumental-Arie zu verkitschen. Mit verschwenderisch schönem Klang zelebriert das Quartett hier anspruchsvolle Musik für Kenner, so wie Mozart sie konzipiert hatte.

Doch am besten ist das Pariser Quartett in den Stücken, die in ihrer komplexen Anlage das dialektische Spiel aus bewegtem Ausdruck und relativer Nüchternheit einfordern. Ravels Streichquartett Opus 35 ist ein solches Stück. Es ist damit auch der Höhepunkt des Abends. Ravels einziges Streichquartett steht am Beginn seiner Entwicklung eines Individualstils und doch lassen sich noch Gesten erkennen, die auf die spätromantische Prägung durch das Pariser Konservatorium hinweisen.

Das Quatuor Modigliani übersetzt diese Spannung zwischen den romantisch gesanglichen Melodien und der vornehm experimentellen Rhythmik und Harmonik in ein hinreißendes Spiel mit Klangfarben. Das immer wieder variierte erste Thema präsentieren die Musiker bei feinster dynamischer Kontrolle gespiegelt und gebrochen, mal überschwänglich, mal aristokratisch zurückhaltend. Es ist, als würde man dasselbe Bild einmal durch rotes Glas sehen, einmal durch blaues. Die unbedingte Kontrolle im Klang verdeutlicht der effektvolle Scherzo-Satz. Viel Pizzicato und Tremolo treten hier zu einem fein abgestimmten Flirren zusammen - ein unwirkliches Klangbild ist das Ergebnis.

Reaktionsschnelligkeit fordert auch der langsame Satz ein. Hier wechseln die Stimmungen quasi taktweise, was dem Quatuor Modigliani einmal mehr Gelegenheit gibt, zu zeigen, wie es in Sekundenbruchteilen Atmosphäre erzeugen und ändern kann. Für diese exemplarische Interpretation des schönsten frühimpressionistischen Streichquartetts gibt es nach dem durchaus an expressive und dynamische Extreme gehenden Finale Bravo-Rufe.

Ein Werk von ganz anderem Zuschnitt ist Franz Schuberts dreizehntes Streichquartett. Weniger ineinandergespiegelte Klangflächen, mehr auf großen Atem gesungene Melodielinien. So beginnen die vier auch den ersten Satz: Als hätte die Musik schon lange vorher angefangen und würde jetzt nur in den rechten Fokus gerückt. Darüber legt sich die lange Kantilene, wird transformiert, mit kontrastierendem Material kombiniert. Das ganze Quartett setzt auf Ausdehnung, nicht auf die Konzentration einzelner, musikalisch interessanter Momente - eine Symphonie, als Streichquartett getarnt.

Dem stellt sich das Quatuor Modigliani mit seiner Bereitschaft zur Differenzierung und ersetzt so ein ganzes Orchester. Mit ihrer Lust an klanglicher Vielfarbigkeit wandern die vier Streicher durch das Labyrinth des Kopfsatzes, um im zweiten Satz anzukommen, nach dem das Quartett sinnloserweise benannt ist. Der Ausgangspunkt des mäandernden Gefüges ist eine Melodie aus Schuberts Singspiel "Rosamunde". Einzig das Menuett bietet so etwas wie die charakteristischen Momente, die bei Ravel en masse vorkommen. So am Anfang, den das Quatuor flexibel und zögernd nimmt, nicht wie den Auftakt zum Tanz, sondern wie das allmähliche Verfestigen einer Erinnerung daran. Den Gegenpol dazu bildet schließlich das kecke Finale. Hier lehnt sich Quartett in die federnden Punktierungen und jubelt in den unendlich sich aneinanderreihenden Skalen.

Am Ende werden fast 40 Minuten vergangen sein, denn auch dieses Werk Schuberts hat die oft mit einem Wort Robert Schumanns bezeichneten "himmlischen Längen". Trotzdem lässt sich das Quatuor Modigliani nicht lange um eine Zugabe bitten. Das witzige Prestissimo-Scherzo aus Schuberts zehntem Quartett ist der Abschiedsgruß, das Ende eines brillanten Konzerts und der Startschuss zu einem herausragenden Fest der Kammermusik.

Konzerttermine und Infos unter quartettissimo.de

© SZ vom 13.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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