Ausstellung und Vortrag in Geretsried:Das Haus der Flüchtlingsklasse 2c

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Der Arbeitskreis Historisches Geretsried und Sankt Hedwig dokumentieren die Entwicklung des einstigen Anwesens Nummer 212 von einem Nazi-Bau zum Seniorenheim

Von Wolfgang Schäl, Geretsried

Gäbe es denn einen geeigneteren Ort, um in Erinnerungen zu schwelgen, als ein Seniorenheim? Genau dies ist jetzt einmal mehr im traditionsbewussten Geretsried geschehen: Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Altenheims Sankt Hedwig haben Heimleiter Theo Heffner und Friedrich Schumacher vom Arbeitskreis Historisches Geretsried eine kleine Ausstellung im Foyer eröffnet und jene Zeiten beschworen, als in diesem Haus auf engstem Raum an die 60 Kinder unterrichtet wurden. Denn in dem Gebäudekomplex an der Adalbert-Stifter-Straße werden erst seit 1967 betagte Menschen gepflegt, zuvor wurden dort im Erdgeschoss Schüler unterrichtet, in dreisitzigen Bankreihen zusammengepfercht. Wie beengt die Kinder dort einst saßen, war an einem Demonstrationsobjekt zu sehen - ein Stoffquadrat von maximal einem Quadratmeter Fläche, das war der Platz, der für jeden Schüler zur Verfügung stand.

Fibel, Bibel und ein Alu-Geschirr aus Wehrmachtsbeständen für die Schulspeisung: So begann die "Volksschule Gelting, Zweigschule Geretsried", wie sie damals hieß. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Lehreinrichtung hieß offiziell "Volksschule Gelting, Zweigschule Geretsried" und war, wie Schumacher in seinem kurzen Referat erläuterte, damals ein bedeutender Fortschritt, denn die Kinder aus Geretsried mussten bis dahin entweder zu Fuß nach Gelting gehen oder mit der Werksbahn nach Wolfratshausen fahren.

Eröffnet wurde die Schule 1948 mit der "Flüchtlingsklasse 2c", in einer Zeit, als alles knapp war, selbst Brennholz. Die Kinder mussten in den ersten Jahren deshalb in den Wald gehen und Äste einsammeln. An die Atmosphäre in dem Haus kann sich Hermine Krammer noch gut erinnern, die dort damals Lehrerin war. Denn mit dem Kinderlärm mussten auch die Gäste zurechtkommen, die im oberen Geschoss des Hauses untergebracht waren. Aus der Toilette strömten üble Gerüche nach oben, "es war nicht einfach für die Leute, die hier gewohnt haben", erinnerte sich Krammer. Die Kinder seien damals acht Stunden am Tag unterrichtet worden, "sie waren beeinflussbar, dankbar und nicht verwöhnt, die Schulstunden waren für sie ein Erlebnis, denn es hat ja noch nicht einmal Fernsehen gegeben".

Friedrich Schumacher hat die Geschichte erforscht. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Requisiten eines damaligen Schülerlebens waren im Foyer in einer Vitrine zusammengetragen und dürften den älteren Besuchern der Ausstellung ziemlich bekannt vorgekommen sein: ein Griffelkästchen samt Schiefertafel, Aluminium-Essgeschirr aus Wehrmachtsbeständen, in dem die Schulspeisung transportiert werden konnte, Lesefibel, Singbuch, Schulbibel und Zirkelkasten. Die Schreibhefte waren fünffach liniert, denn damals mussten die Kinder auch noch die alte Sütterlinschrift lernen.

Die Lehrer sind in einem Buch dokumentiert. (Foto: Hartmut Pöstges)

Dass das heutige Altersheim eines der ältesten Gebäude von Geretsried ist, schildert der passionierte Heimathistoriker Schumacher in einer aufwendig gestalteten Festschrift "50 Jahre St. Hedwig Geretsried". Seine Recherchen führen ihn zurück in die Kriegsjahre: Der erste Entwurf des Hauses stammt aus dem Jahr 1939 und war konzipiert für Reichswerkswohnungen. Denn von 1940 bis 1945 produzierte die Deutsche Sprengchemie (DSC) südlich der Tattenkofener Straße riesige Mengen Munition. Die Gebäude waren nummeriert, das heutige Eingangsgebäude des Altenheims trug die Nummer 212 und lag Schumachers Forschungen zufolge in unmittelbarer Nähe zum Haupteingang des umzäunten Werksgeländes.

Die Erkundigungen nach dem Haus führten Schumacher bis nach Berlin, wo er noch viele einschlägige Dokumente entdeckt hat. Demnach wurde das 1939 geplante Gebäude 1940 fertig und stellte für ledige Angestellte der DSC 23 Zimmer zur Verfügung, fünf mit einem gemeinsamen Balkon waren für "höhere" Gäste reserviert, darunter Offiziere der Wehrmacht.

Besitzer des Hauses war die Gesellschaft zur Verwertung von Montanindustrie (Montan), die das Gebäude an die DSC vermietete. Herausgefunden hat Schumacher auch, dass das Gebäude 1945 nach seiner Besetzung durch amerikanische Streitkräfte als Quartier genutzt wurde. Man habe in den Kellerräumen große Mengen gebrauchten Verbandsmaterials gefunden, woraus Schumacher schließt, dass dort auch Geschundene des Todesmarsches aus dem KZ Dachau versorgt wurden.

Architekt des Gebäudes war Fritz Noppes, der nach 1945 auch die Umplanung für friedliche Zwecke in Angriff nahm. 1961 kaufte die Caritas der Erzdiözese München und Freising das Haus von der Montan und ließ es umbauen, das ehemalige Gästehaus wurde als Personal- und Wirtschaftsgebäude in die Altenheimanlage integriert, in der heute 150 Senioren wohnen. Auch ein Kindergarten ist dort untergebracht.

Wer sich mit der Geschichte des Anwesens beschäftigen möchte, hat dazu an diesem Freitag, 6. Oktober, 18.30 Uhr Gelegenheit: Im Saal des Altenheims, Adalbert-Stifter-Straße 54, hält Friedrich Schumacher einen bebilderten Vortrag: "Das ehemalige Gästehaus - ein repräsentatives Gebäude im Laufe seiner Geschichte"

© SZ vom 06.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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