Ateliertage:Wahn und weiße Wände

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Bei den Ateliertagen Berg/Icking lohnt sich auch ein Abstecher nach Wolfratshausen. Drei Künstlerinnen und ein Kunst-Denker laden dort zu inspirierenden Besuchen in ihre Werkstätten ein

Von Barbara Szymanski, Wolfratshausen

Die weiße Wand hat keinen Titel. Davor stehen Bretter, wohlgeordnet, wie es scheint. Sie erinnern an die Silhouette von Manhattan. Ist das nun das Werk, das Bildhauer Ulrich Panick zum Motto "Wahn und Wirklichkeit" der 34. Ateliertage Berg/Icking beisteuert? Warum eigentlich nicht Weiß? Es gibt schließlich dieses berückende Yves-Klein-Blau oder das beredte Schwarz des russischen Konstruktivisten Kasimir Malewitsch. Panick sagt zu seiner weißen Wand: "Da sieht man ja gar nichts, habe ich mir gedacht. Es aber dabei belassen." Die Spachtelmasse im Format 200 mal 145 Zentimeter hat er direkt auf die Raufasertapete aufgebracht, dann geschliffen und mit Dispersionsfarbe das bleckende Weiß aufgetragen.

Nicht alle Atelierbesuche sind so rätselhaft wie dieser am Wolfratshauser Obermarkt 20, wo Panick zusammen mit der Bildhauerin und Kunstlehrerin Nausikaa Hacker eine Werkstatt gemietet hat. Ebenso wie die beiden Künstlerinnen Birgit Berends-Wöhrl und Teresa Erhart ein paar Häuser weiter beteiligen sich die beiden zum wiederholten mal an den Ateliertagen Berg/Icking und bilden eine Art Exklave zum angestammten Ausstellungsgebiet.

Auch Nausikaa Hacker hat eine weiße Wand zu bieten, bespielt diese aber mit der Installation "In/out". Das Rein und Raus vollziehen feine rostige Eisendrähte, die sich scheinbar aus der Wand herausdrängen, zu allerlei Figuren ringeln und dann wieder in der Wand verschwinden. Was befindet sich in der Wand direkt zum Bergwald? Diese Frage beschäftigt die Bildhauerin schon lange.

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(Foto: Manfred Neubauer)

Teresa Erhart lässt in ihrer Werkstatt im Humplgassl eine grenzenlose "Stadt am Meer" wachsen.

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(Foto: Manfred Neubauer)

Bei Birgit Berends-Wöhrl ist derzeit "Das Leben zu Gast auf 7 Stühlen". Die Installation symbolisiert verschiedene Lebensphasen und lädt zu einer individuellen Verortung ein.

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(Foto: Manfred Neubauer)

Nausikaa Hacker hat ein "Lustiges Hasengrab" gestaltet - mit Müllresten aus dem Mittelmeer.

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(Foto: Manfred Neubauer)

Wo ist die Wand und wo die Kunst? Eine Frage, über die sich mit Ulrich Panick trefflich diskutieren lässt.

Daneben blinkt es bunt und fröhlich. "Lustiges Hasengrab" heißt das Objekt, ein Pendant zu Joseph Beuys' Hasengrab im Münchner Lenbachhaus, das sehr düster daherkommt. Hacker verwendet ebenfalls Fundstücke, nämlich viel ausgebleichtes, aber immer noch intaktes Plastik, das sie aus dem Meer gefischt hat. Auch ihr Hasengrab ist "deshalb immer noch schrecklich", wie sie sagt. Halt, stopp! Nicht in den weißen Stacheldraht laufen, der da von der Decke bis zum Boden reicht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Es sind winzige weiße Menschlein, die dort Leib an Leib das "Vertikal" bilden. Unter das Motto "Wahn und Wirklichkeit" fallen bei Hacker auch die "Kopfnüsse" aus Bronze: Vorne haben sie ein Gesicht, der Hinterkopf zeigt die Struktur einer Walnuss.

In der Werkstatt der Bildhauerin und studierten Sozialarbeiterin Birgit Berends-Wöhrl im Humplgassl 1 ist "Das Leben zu Gast auf 7 Stühlen". Die Künstlerin setzt in der Installation sieben Lebensphasen eines Menschen in Szene - von der Geburt über die Kindheit bis zum Tod. Anfang und Ende sind jeweils in Form eines metallisch wirkenden Baums dargestellt, der seine Wurzeln in einen alten Stuhl versenkt.

In der Mitte des Lebens, welche die Bildhauerin zwischen 30 und 50 Jahren ansiedelt, befindet sich der Mensch auf dem "Siegertreppchen der Leistungsgesellschaft", wie sie sagt. Eine weiße Leiter führt nach oben - ins Nirgendwo. Die "Reife" eines Menschen symbolisieren Äpfel, die bei genauerem Hinsehen schon leicht zu schrumpeln beginnen. Eine Arbeit, an der man sich erfreuen kann und ins Nachdenken kommt. Wo befindet sich gerade mein Stuhl?

In Wolfratshausen leuchtet an diesem Wochenende noch einmal das rote A der Ateliertage Berg/Icking. (Foto: Manfred Neubauer)

Vorbei an den schrundigen, dunklen und geheimnisvollen Landschaften aus sächsischem Serpentin von Berends-Wöhrl gelangt der Besucher zu Teresa Erhart, deren Hände sich stets mit irgendetwas Kreativem beschäftigen. Gerade baut sie ein Häuschen aus Pappe für einen Adventskalender. Häuser sind das zentrale Sujet der studierten Holzbildhauerin, die zugleich leidenschaftliche Heilerziehungspflegerin ist. "Ich liebe meinen Brotberuf, auch weil er mir die Freiheit gibt, mich nach allen Seiten zu öffnen für künstlerisches Schaffen", sagt sie.

Tatsächlich gibt es in ihrer Werkstatt viel zu entdecken: Reliefarbeiten aus nachgiebigem Birnbaumholz, Skulpturen, Bilder, vor allem aber Zeichnungen mit Tinten-Fineliner, monochrom oder mitunter zurückhaltend koloriert. Ihre neueste Arbeit besteht aus mittelformatigen Einzelbildern von Häusern, Kirchen, Türmen, Balkonen und eingearbeiteten Fabelwesen, die sie immer wieder aneinander stückelt und in alle Richtungen wachsen lässt. Aus unzähligen feinsten Tintenstrichen erwächst auf diese Weise eine "Stadt am Meer", so der Titel.

Mit Hilfe einer begeisterten Besucherin legt Teresa Erhart die Blätter zu einem Großformat zusammen. Auf der weißen Wand, die das Licht reflektiert, beginnen Wellen zu tanzen.

"Wahn und Wirklichkeit": Ateliertage Berg/Icking, 10. und 11. Oktober, 12 bis 19 Uhr, ausführliche Informationen unter atelier-tage.de

© SZ vom 08.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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