Vorschlag-Hammer:Tief gesunken

Lesezeit: 2 min

Wer unter die Erde steigt, weiß nie, was er findet, wem er begegnet und ob er jemals wieder das Licht sehen wird

Kolumne von Christian Jooß-Bernau

Mit ein wenig Konzentration habe ich heute noch den Geruch des brennenden Karbids in der Nase, das in Metalllampen der Besucher vor sich hin gaste und funzelte. In der Maximiliansgrotte bei Königstein in der Oberpfalz gibt es die aus vielen guten Gründen schon lange nicht mehr. Die Lampen aber waren Teil des Kindheitsabenteuers, Ausleuchter des Unheimlichen. Wer in die Tiefe steigt, weiß nie, was er findet und ob er jemals wieder das Licht sehen wird. Im Unterland (Penguine) heißt das Buch des britischen Naturschriftstellers Robert Macfarlane, übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers, das mich mit der Macht der Schwerkraft in die Kapitel zog. Macfarlane steigt hinab - in die Katakomben von Paris, zu einem unterirdischen Fluss, in eine Doline in Slowenien, Abgrund eines Kriegsverbrechens. Seine Naturbeschreibungen sind bis zur Euphorie mit Erdgeruch gesättigt. In einer Höhle an einem norwegischen Fjord tritt er durch die dünne Membran, die die Gegenwart von der Vergangenheit trennt. Um ihn tanzen rote Strichmännchen. Malerei. Jahrtausende alt.

Auf dem Weg in die Tiefe halluziniert man die Vergangenheit. So wie Algiers aus Atlanta. "There Is No Year" heißt ihr die Zeit zersetzendes drittes Album, auf dem sie ihren visionären Gospel für eine dem Wahnsinn verfallenen Welt weitertreiben. Im mahlenden Strudel des Elektro-Punk treibt bürgerrechtsbewegter Folk, ausgestellt mit großer prophetischer Geste. Am 24. Februar spielen sie im Strom. Von unten hat man manchmal einen klareren Blick auf die Menschen. Mit Das große tiefe Blau, erschienen in der Übersetzung von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow bei dtv, hat der Biologe Alex Rogers seine Lebensliebe Meer zum Buch gemacht. So ist die eine Hälfte die Forscherbegeisterung über das Wunderbare. Über Hydrothermalquellen als Mittelpunkte hoch spezialisierter Lebensgemeinschaften, über die Anpassung an die Sauerstoff-Minimum- Zone im Indischen Ozean. Die andere Hälfte ist Erschrecken über die verdrängten Sünden der Menschheit, die sich in der Tiefe dem Blick entziehen. Die zarten Wunder des Meeresbodens werden von Schleppnetzen umpflügt und vernichtet. Es ist einfach nur barbarisch - ganz zu schweigen vom Meer als Müllhalde der Menschheit.

Ob es die Klaustrophobie ist, die in Robert Macfarlane, umschlossen von tausend Tonnen Stein, aufsteigt, die Verbrechen der Vergangenheit, verschüttet im Geröll der Zeit, die Schuld der Gegenwart, entsorgt am Meeresgrund - die Tiefe ist ein Ort in jedem von uns. Noch bis zum 3. März zu sehen ist die Ausstellung über Liesl Karlstadt "Schwere Jahre 1935 - 1945" im Valentin Karlstadt Musäum. Am 6. April 1935 wird Karlstadt an der Prinzregentenbrücke aus der Isar gerettet. Sie kommt in die Psychiatrische Klinik in der Nußbaumstraße und beginnt, Briefe an ihre Freundin Norma Lorenzer zu schreiben. Sie bringen an die Oberfläche, was in den tiefen Grotten ihres Wesens vor der Öffentlichkeit verborgen blieb.

© SZ vom 05.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: