Von "Tatort" bis "Dampfnudelblues":Ich sehe was, was du nicht siehst

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Franziska Aigner ist eine der gefragtesten Casterinnen der Filmbranche. Begegnung mit einem Bauchmenschen, der seine Darsteller oft besser versteht als die sich selbst

Von Philipp Crone

Wenn Franziska Aigner von ihrem Bauchgefühl spricht, sieht sie immer ein wenig ratlos aus. Die schlanke Frau mit dem kurzen dunklen Haar erklärt in melodischem Schwäbisch, wie sie ihren Job macht, versucht es mit Vergleichen, Erklärungen, Beispielen, und doch ist dann da immer wieder ein Moment Stille, bevor sie sagt: "Das habe ich oft im Gefühl, ich bin ein totaler Bauchmensch." Welcher Schauspieler für welche Rolle der richtige ist. Man hat es, oder man hat es nicht, dieses Gefühl. Und eine Eigenschaft eines Gefühls ist ja auch, dass es ein Stück weit unerklärlich bleibt. Dabei würde die 55-Jährige gerne ganz exakt erläutern können, wie das geht, gut zu casten. Denn eines wird klar, wenn Aigner über diesen Beruf spricht: Die Rolle des Rollen-Besetzers ist entscheidend für den Erfolg. Das Casting ist wahrscheinlich sogar in manchen Fällen der wichtigste Moment während einer Filmproduktion.

In den vergangenen 20 Jahren hat sie Schauspieler für mehr als hundert Filme besetzt

Vielleicht wirkt Franziska Aigner auch deshalb ein wenig unglücklich bei ihrem Bauchgefühl, weil das ja jeder sagen kann: spüre ich, fühle ich. Andere mag ihr Gefühl auch täuschen, Aigner nicht. Seit 20 Jahren besetzt sie Schauspieler für Fernseh- und Kinofilme, und von den mehr als hundert Filmen waren fast alle entweder preisgekrönt oder hatten viele Zuschauer oder beides.

Wenn Franziska Aigner jemanden so ansieht, könnte es sein, dass sie ihr Gegenüber durchschaut und dann auch gleich für eine Kino-Hauptrolle besetzt. (Foto: Robert Haas)

Wenn Models davon träumen, von einem Agenten auf der Straße angesprochen zu werden, dann träumen Jungschauspieler im Theater Traunstein davon, dass Aigner an einem Abend mal den Zuschauerraum betritt. Sie entscheidet, ob jemand mit einer Landesbühnen-Nebenrolle eine Kino-Hauptrolle bekommt. So wie bei Bettina Mittendorfer zum Beispiel.

Aigner sollte für den Film "Eine ganz heiße Nummer" 2010 Schauspieler besetzen. Dabei gilt für den Erfolg grundsätzlich die Regel: "Namen braucht man immer." Solche wie Veronica Ferres oder Christine Neubauer, die bei den Zuschauern Millionen Fans haben. Aber man braucht für eine Besetzung auch Mut, "unbedingt neue Gesichter" und Spannung. Das kann die zwischen der Persönlichkeit eines Schauspielers und einer für ihn neuen Rolle sein, oder die zwischen verschiedenen Charakteren am Set. Bei "Eine ganz heiße Nummer" war schnell klar, dass die Namen Gisela Schneeberger heißen werden und Rosalie Thomass. Schneeberger führt im Film mit einer zweiten Frau einen kleinen Laden. Aigner dachte an Mittendorfer, die im Theater Traunstein spielte, "die kannte bis dahin noch fast niemand", und besetzte sie.

Mittendorfer spielte die Rolle der ganz normalen Frau im Dorf so authentisch, dass sich viele Zuschauer, darunter wahrscheinlich auch viele ganz normale Frauen vom Dorf, mit ihr identifizieren konnten, dass der Film 2011 die zweiterfolgreichste deutsche Produktion war mit mehr als einer Million Zuschauern. Mittendorfer erhielt den Bayerischen Filmpreis.

Und was war Aigners Bauchgefühl? Sie erkannte, dass es neben den Namen auch eine ganz normale Frau braucht. Sie wusste, was das Publikum sehen will. Dass sie die Persönlichkeit der Schauspielerin mit der zu besetzenden Rolle verbinden konnte. Weil sie in Mittendorfer auch das sah, was sie ist: eine ganz normale Frau. Und dass sie sich vorstellen konnte, wie eine Frau wohl auf der Riesenleinwand des Mathäser-Hauptkinosaals wirken würde, die sie nur aus Traunstein kannte.

Der geilste Tag: Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer (von links). (Foto: Verleih)

Anna Maria Sturm war gerade frisch an die Falckenberg-Schauspielschule gekommen, als Aigner sie für die Hauptrolle in Marcus H. Rosenmüllers Film "Beste Zeit" vorschlug. Heute ist Sturm als Kino-Darstellerin etabliert. Das ist Aigners Bauchgefühl - und Fantasie. Die hat sie, und schon als Kind gut trainiert.

Psychologen empfehlen, dass Kinder Bücher lesen sollen, weil es unter anderem die Kreativität und das Vorstellungsvermögen fördere. Man muss die Buchstaben in Bilder übersetzen. Aigners Vater war Buchhändler in Ludwigsburg, die Tochter begann also schon früh, Filme im Kopf zu drehen. "Ich war früher sehr oft im Lupe-Kino in Stuttgart und habe damals schon immer überlegt, wie es wohl wäre, wenn die Hauptrolle nicht von diesem Schauspieler, sondern von einem anderen gespielt würde, es ergäbe einen ganz anderen Film." Mit 21 ging Aigner zu den TC-Studios in die Werbebranche und durfte gleich Kundengespräche führen. "Mein Chef meinte, ich sei ein cooles Mädel und gut im Umgang mit Menschen." Wer sich sein Leben lang auf sein Bauchgefühl verlassen kann, wird selbstbewusst. Und wer Menschen gut einschätzen kann, wird vielleicht Caster.

Aigner studierte Theaterwissenschaften in Berlin, kehrte aber nach drei Semestern zurück zu den Büchern. "Ich bin eher der praktische Typ." Sie machte in München eine Buchhändlerlehre, eröffnete in Marbach eine Dependance des väterlichen Buchladens. Es lief, sie machte auch noch einen Taschenbuchladen auf. Wenn Aigner heute Darsteller zu ihren Rollen und zum Publikum bringt, dann brachte sie damals den Leser zu seiner Geschichte.

Aigner zog 1989 zu ihrem damaligen Mann nach München, war ein paar Jahre ausschließlich für die beiden heute 25- und 26-jährigen Kinder da, ehe sie wieder arbeitete. Sie sagt schwäbisch-schwingend: "Ich dachte dann: Ich probiere es mit Casting." An einem Donnerstag erzählte sie die Idee einer Freundin, am Samstag wurde sie in der Stadt, "ich war sicher shoppen", von der Produzentin Gloria Burkert angesprochen, "ob ich nicht ihren Jubiläums-Tatort besetzen will". Einfach so? Ihr Mann war damals ein gefragter Werbefilmer, "deswegen war vielleicht auch ich ein bisschen en vogue zu der Zeit und Burkert dachte sich: Die hat Geschmack, und ist ne gute Frau, die probiere ich aus."

Ganz heiße Nummer: Bettina Mittendorfer, Gisela Schneeberger, Rosalie Thomass (von links). (Foto: Verleih)

Aigner besetzte unter anderem Christian Berkel, der Film gewann einen Preis, die Casting-Debütantin hatte einen neuen Beruf. Einen, bei dem man damals noch riesige Taschen mit Videokassetten rumschleppen musste. Heute sitzt ein Caster am Laptop und schaut sich die Beispiel-Sequenzen von Darstellern an, damals musste Aigner Kataloge durchsehen, in denen Schauspieler mit Passfotos aufgelistet waren. "Ich kann in Fotos reinschauen", sagt sie und meint: Sie kann sehen, welche Eigenschaften in einem Schauspieler stecken. Sie sieht den verschüchterten Jungen hinter einem stählern wirkenden Typen, den sie dann vielleicht für eine Rolle besetzt, in der es um einen Mangel an Selbstbewusstsein geht. "Ich mache diesen Job, weil ich den Menschen sehen und verstehen will."

Der BR-Moderator und Schauspieler Max Schmidt, den Aigner entdeckte, sagt: "Sie kann sich einfach in sehr viele verschiedene Menschen hineinversetzen." Zum Beispiel in Sebastian Bezzel, den sie als schluffig genialen Dorfpolizisten Eberhofer in "Dampfnudelblues" besetzte, der ersten Verfilmung der Bestseller von Autorin Rita Falk. Dieses leicht Trantütige, was Bezzel spielt, das hat Aigner in ihm gesehen, bevor er selbst es merkte. Der Produzent Christian Becker, mit dem Aigner schon oft zusammengearbeitet hat, sagt: "Sie ist außergewöhnlich. In Deutschland haben nur sehr wenige so ein Talent, immer wieder so eine gute Mischung zu finden." Eine aus bekannten und unbekannten Darstellern, aber auch eine Mischung aus Anspruch und Kommerzialität, und das immer zum Wohle des Films". Außerdem kämpfe sie für ihre Vorschläge, "und behält fast immer Recht".

Dampfnudelblues: Sebastian Bezzel und Robert Palfrader. (Foto: Verleih)

Drei Mal in der Woche ist sie an Theatern und Schauspielschulen auf der Suche nach Darstellern

Los geht die Arbeit mit einem Buch, zum Beispiel mit dem von Rita Falk. "Da wollten wir eine eigene Welt erschaffen." Das sei so, als ob eine Inneneinrichterin in eine leere Wohnung kommt und sich überlegt, was wohin passen würde. "Wenn zwei Caster den gleichen Film besetzen würden, kämen zwei völlig verschiedene Filme dabei heraus." Aigner überlegte, welche Charaktere für die Inneneinrichtung von "Dampfnudelblues" wichtig sind. In Dörfern gibt es ja auch immer starke Figuren, etwa den Metzger. Aigner ging ihre Datenbank und ihr Gedächtnis durch und kam auf Stephan Zinner, der am Nockherberg den Söder als nervtötenden Oberschleimer spielt. Und dann müssen die Darsteller auch immer noch am Set zueinander passen. "Ich spüre, wer sich mit wem versteht." Das sei wie die Zusammensetzung einer guten Party, da brauche man auch verschiedene Typen.

Immer wieder kommt Aigner als Inneneinrichterin in neue Wohnungen. Der Kinofilm "Der geilste Tag" von Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer, "Der Schlussmacher" oder "Das Tagebuch der Anne Frank", eher internationale Filme, brauchen andere Darsteller als ein bayerischer mit regionaler "Schmunzel-Energie", wie Aigner das nennt.

Aigner lebt und arbeitet in ihrem Büro in Schwabing, es ist eine große Altbauwohnung mit zwei Zimmern, die sie immer mal wieder an Filmhochschul-Studenten vergibt. Dreimal in der Woche ist sie am Theater oder an der Falckenberg-Schule, einmal in der Woche lädt sie Schauspieler zu kurzen Gesprächen ein. Auch Empfänge sind wichtig, da sehe sie die Leute "ganz frisch". Sie betreut oft fünf Projekte gleichzeitig, auch weil Caster nicht so gut verdienen wie Darsteller. Das Honorar für einen Fernsehfilm ist vierstellig, das für einen Kinofilm normalerweise fünfstellig, die Arbeit dauert manchmal ein ganzes Jahr.

Und mal selbst vor die Kamera, eine Filmrolle? "Ich könnte das überhaupt nicht!" So ist das wohl mit den begnadeten Gefühlsmenschen, die können sich nicht verstellen und sind immer sie selbst.

© SZ vom 28.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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