Vom Dorf zum Stadtteil:Besondere Ansichten

Lesezeit: 3 min

Frühe Profi-Fotografen lichteten in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg Pasing ab und verkauften die Bilder als Postkarten. Ein neues Buch zeigt den Stadtteil aus dieser historischen Perspektive

Von Jutta Czeguhn

Fotos gibt es keine von diesem George Davis, was schade, aber auch nicht weiter verwunderlich ist, denn schließlich stand er ja hinter der Kamera. Vor dem inneren Auge kann man sich den Mann aber recht gut vorstellen. Ein innovativer Exzentriker muss er gewesen sein, auch optisch. Als er um das Jahr 1900 auf seinem Hochrad durch die Straßen von Pasing fuhr, war das für die Leute eine ähnliche Sensation wie später die ersten Zeppeline am Himmel. Bernhard Möllmann erinnert in seinem neuen Buch "Pasing - Vom Dorf zur Stadt zum Stadtteil" (Volk Verlag) an den Maler und Fotografen, der in der Lagerhausstraße, heute Rathausgasse, sein Atelier hatte. Über 1000 historische Ansichtskarten von Pasing hat Möllmann mittlerweile in seiner Sammlung. Zwei Bände mit Bildern vom alten Pasing hat der pensionierte Gymnasiallehrer bereits veröffentlicht, im dritten liefert Möllmann nun nicht nur Ortsgeschichte in Postkartengröße, er erzählt auch von Pionieren der professionellen Fotografie wie George Davis.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts, schreibt Möllmann, habe es von Pasing quasi nur Stiche gegeben, und die hätten sich in Besitz der begüterten Familien befunden. Dabei waren in Deutschland schon von 1854 an sogenannte Visitkarten, eine Frühform fotografierter Ansichtskarten, weit verbreitet. Nur eben nicht in Pasing, diesem Dorf mit ein paar hundert Einwohnern. Was hätte es dort schon abzulichten gegeben? Mit der Industrialisierung und dem rasanten Zuzug änderte sich das radikal. Um 1900 lebten schon über 7000 Menschen in Pasing. Der Ort war fortan beliebte Wohngegend, Ausflugsziel, Schulstadt, ein reizvoller Kontrast aus ländlich und urban. Für Fotografen gab es nun attraktive Motive - und definitiv auch Kunden.

Das "Goldene Zeitalter" der Ansichtskarte liegt laut Möllmann in den Jahren zwischen 1895 und dem Ersten Weltkrieg, in die auch die Erhebung Pasings zur Stadt 1905 fällt. Eine Fülle von Pasinger Ansichten entstehen in dieser Zeit. Bernhard Möllmann, der 35 Jahre am Pasinger Karlsgymnasium unterrichtete, konnte im Lauf von Jahrzehnten viele in seinen Besitz bekommen, durch beharrliches Stöbern in Antiquariaten oder geschicktes Bieten in Online-Börsen. "Für eine kleine Ansichtskarte habe ich bei Ebay schon mal 28 Euro ausgegeben, ich wollte sie unbedingt haben", erzählt Möllmann, der seine Sammlung akkurat in Ordnern mit Klarsichthüllen aufbewahrt.

Seit 2004 hat er am aktuellen Band gearbeitet. Die Auswahl an Ansichtskarten und seine fundiert recherchierten Erläuterungen dazu machen die Entwicklung Pasings vom Dorf, zur Stadt und dann zum Stadtteil Münchens nachvollziehbar. Womöglich wird sich so mancher Leser mit dem Buch im Fahrradkorb auf den Weg machen und herausfinden wollen, aus welcher Perspektive die frühen Fotografen ihre Aufnahmen schossen.

Da ist Fotograf Albert Lehmann, der von 1903 bis 1908 sein Dachgeschossatelier im Hieronymus-Haus, dem späteren Kring-Haus, direkt am Pasinger Marienplatz hatte. Viele Pasinger, schreibt Möllmann, hätten sich dort porträtieren lassen. Von Lehmann stammen etliche bekannte historische Stadtansichten. Kaum bekannt ist jedoch, dass Albert Lehmann bis seinem Tod 1943 im eigenen Haus in der heutigen Varnhagenstraße lebte und als einer der letzten Juden auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München bestattet wurde. Das hatte das Stadtforscher-Team für das Projekt "Jüdische Lebenswege im Münchner Westen" herausgefunden. Auch das Schicksal von Lehmann ist Teil der Geschichte des Vororts.

Hausfotografie vom Kramerladen von Rupert Thurner um 1909. (Foto: Sammlung Möllmann)

Die Fotografen, die Möllmann dem Leser vorstellt, zeigen Pasing auch auf sogenannten Ereigniskarten, die nicht nur ortshistorisch von Bedeutung sind: Da sieht man im Mai 1919 regierungstreue Truppen über den Marienplatz zur Gegenrevolution ziehen, die Pasinger sind zusammenlaufen und schauen dem Spektakel zu. Daneben liefert der Band viele Ortsansichten, von Pasings imposanten Schulbauten etwa oder den schmucken Villen, die sich das aufstrebende Münchner Bürgertum in den Vorort gebaut hat. Es gibt überraschende Motive der beliebten, zumindest auf den Abbildungen mondän wirkenden Würmbäder, die Pasing beinahe den Anschein eines Kurorts geben. Viele der Karten tragen die Grußbotschaften auf der Vorderseite, denn auf der Rückseite war nur die Adresse erlaubt.

Beliebtestes Sujet war den Fotografen der Pasinger Marienplatz, über den sich Bernhard Möllmann viele Gedanken macht. Die Chance auf einen Stadtplatz, so scheint es ihm, sei bereits 1908 vertan worden, als ein Teil für die Tramschleife in Anspruch genommen und die Mariensäule demontiert wurde. Als dann 1921/22 auch noch an der Westseite des Platzes der Behelfsbau, im Volksmund "Pappschachtel" genannt, errichtet wurde, sei der Marienplatz zu einer "Straßenkreuzung reduziert worden". Im Buch sieht man den Marienplatz noch ohne die Pappschachtel und die Jahre zuvor errichtete Mädchenschule. Ein Anblick, der sich den Pasingern demnächst wieder bieten wird, wenn die Bauten abgerissen werden. Für eine kurze Zeit, bis ein neues Geschäftshaus mit Hotel entsteht, können sie quasi ein wenig in die Vergangenheit blicken.

Das Institut der Englischen Fräulein um 1898. (Foto: Sammlung Möllmann)

"Pasing. Vom Dorf zur Stadt zum Stadtteil", Bernhard Möllmann, Volk Verlag München.

© SZ vom 28.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: