Viertel-Stunde:Mit anderen Augen

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Er liebt Schwabing: Steffen Erzgraber. (Foto: Stephan Rumpf)

Steffen Erzgraber ist blind, lebt in Schwabing-West und fühlt sich wohl

Von Tim Sauer

Sehr langsam entsteht ein Bild in meinem Kopf. Es ist dafür viel intensiver." So beschreibt Steffen Erzgraber seine Wahrnehmung. Er ist blind, lebt in Schwabing-West und fühlt sich wohl: "Für mich ist das München von seiner schönsten Seite." Mittlerweile kennt sich Erzgraber aus. Und wenn man ihm zuhört, hat man tatsächlich das Gefühl, unmittelbar in die Szenerie einzutauchen. "Der Hohenzollernplatz öffnet sich nach rechts, ich halte mich dann immer möglichst weit links. Ganz rechts ist ein Vietnamese, auf meiner Seite kommt eine Bäckerei. Dort springt die Hausfront etwas zurück, der Luftzug ist ein anderer. Und natürlich kann man die frischen Croissants riechen."

Viele Erfahrungen macht der Blinde selbst, einige sind das Ergebnis sogenannter Orientierungs- und Mobilitätstrainings. Dort erklärt seine Trainerin die Umgebung, dann gehen beide gemeinsam die Strecke ab. Anschließend schreibt sich Erzgraber alles auf. So entsteht über die Jahre hinweg ein umfassendes Bild. Einfach drauflos laufen kann er trotzdem nicht. Denn falsch parkende Autos und umgefallene Fahrräder machen ihm am meisten zu schaffen: "Und die Baustellen an der Schleißheimer Straße sind auch nicht ohne." Wohl kaum ein Schwabinger jubiliert beim Gedanken an die Gerüste, und für Erzgraber sind sie obendrein komplizierte Hindernisse, an denen er sich schon mal den Kopf stößt.

Angst habe er aber keine, höchstens gesunden Respekt. Und wer glaubt, dass er Ausflüge möglichst meidet, liegt falsch. Am liebsten geht er am Sonntagnachmittag mit seiner ebenfalls blinden Freundin spazieren. Durch die Sträßchen an der Elisabethstraße Richtung Uni laufen sie dann. Die kleinen Geschäfte und die vielen Restaurants "mag ich unheimlich gern", schwärmt der 31-Jährige. Dort wirke München auf ihn noch wie eine gemütliche Kleinstadt.

Aber Schwabing-West hat noch andere Vorteile: "Die Menschen hier sind freundlich und unaufdringlich." In der Innenstadt passiere es schon mal, dass er ungefragt über eine Straße gezogen werde, die er gar nicht überqueren wollte. Das passiere ihm hier seltener. Nur das kulinarische Angebot sieht er kritisch: "Wir müssen echt aufpassen, dass wir nicht zu fett werden."

Erzgraber und seine Freundin suchen übrigens noch einen Schneider. Bei den vielen Wegen, die sie in Schwabing zurücklegen, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie einen gefunden haben.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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