Vernetzte Autoren:Mit Witz auf Twitch

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Online-Lesungen müssen nicht zwingend einem höheren Zweck dienen. Sie dürfen auch einfach nur Spaß machen. Schriftsteller wie Saša Stanišić oder Tom Hillenbrand sind auf diversen Kanälen präsent - andere gründen sogar Literatur-Festivals wie "Viral".

Von Isabell Schirra

Das Wichtigste auf einen Klick: Seit Georgios Jakobides 1882 das Bild "Lesendes Mädchen" malte, hat sich einiges in der Welt verändert. (Foto: privat)

Es gibt Werke, die drängen sich geradezu auf als Krisen-Lektüre. Etwa das "Dekameron", der von Boccaccio im 14. Jahrhundert verfasste große europäische Novellen-Zyklus. Schildert Boccaccio in der Rahmenhandlung zu den 100 Geschichten doch eine mittlerweile allzu bekannte Quarantäne-Situation: Angesichts der in Florenz grassierenden Pest flüchten sich zehn Menschen auf ein Landgut. Zur Zerstreuung erzählen sie sich Geschichten. Nach zehn Tagen mit jeweils zehn Geschichten kehrt die Gruppe nach Florenz zurück.

Über eine zehntägige Quarantäne kann die heutige Corona-Gesellschaft nur lachen. In seinem als "pan-europäisches Hörspiel" angelegten Großprojekt "Décaméron-19" (in Anlehnung und als Gegenpol zu Covid-19) lässt der französische Regisseur Sylvain Creuzevault daher pro Tag nur eine Geschichte aus dem "Dekameron" lesen - hundert Tage lang. Und zwar von 100 Schauspielern aus Europa und der Welt. Die bis zum 23. Juni allmorgendlich um neun Uhr erscheinenden Geschichten sind daher mal auf Deutsch, mal in einer anderen Sprache eingesprochen. Da sich aus dem deutschsprachigen Raum vor allem Schauspieler des Hamburger Thalia Theaters und des Wiener Burgtheaters beteiligen, werden die Hörspielminiaturen auch täglich auf deren Webseiten veröffentlicht - inklusive einem Pdf der aktuellen Geschichte in deutscher Sprache.

Nun muss so eine Online-Lesung nicht gleich Ausgangspunkt einer "metaphysischen Pandemie" sein, wie Burgtheater-Dramaturg Alexander Kerlin dem Projekt mit Rückgriff auf die Worte des Philosophen Markus Geibel attestiert. Der Schriftsteller Saša Stanišić will statt dessen greifbare Hilfe leisten und kombinierte seine virtuellen Benefiz-Lesungen mit einem Spenden-Aufruf. In seinen auf Instagram und Twitch übertragenen Streams las Stanišić mit viel Witz und darstellerischem Talent unter anderem aus seinem Erzählband "Fallensteller" und dem mit dem deutschen Buchpreis prämierten Roman "Heimat". Ganz nebenbei hat er damit rund 40 000 Euro für Hilfsorganisationen wie Seebrücke oder die Queer Base Wien gesammelt.

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Weitere Lesungen hat Saša Stanišić bisher nicht angekündigt. Zwei dieser Lesungen wurden allerdings auf dem Youtube-Kanal der Verlagsgruppe Random House veröffentlicht. Dort werden übrigens auch Krimi-Fans fündig, denn Autoren wie Alex Beer und Marc Elsberg lesen dort ebenfalls aus ihren Werken.

Unter die Kategorie politische Bildung könnte man das fassen, was die Fotografin Katja Feldmeier und der Schauspieler Julius Feldmeier auf die Beine gestellt haben. Auf Instagram ließen sie sechs Schauspieler Episoden aus "Desintegriert Euch" lesen. Einem Buch, in dem Autor Max Czollek mit Scharfsinn und zuweilen steilen Thesen das jüdisch-deutsche Verhältnis beleuchtet - fernab von der Phrasenhaftigkeit, die manchmal den Diskurs beherrscht.

Die Szene ist kreativ und vernetzt wie selten zuvor

Online-Lesungen müssen aber nicht zwingend einem höheren Zweck dienen: Sie dürfen auch einfach nur Spaß machen. Wie beispielsweise der Podcast "Backlist" des Münchner Autors Tom Hillenbrand: Schon seit 2018 stellt er dort in unregelmäßigen Abständen Bücher vor, die vor mindestens zehn Jahren in Deutschland erschienen sind, darunter Bill Brysons "Reif für die Insel" und Jasper Ffordes "Der Fall Jane Eyre". Hillenbrand versorgt die Zuhörer mit Informationen rund um das Buch, die Schauspielerin und Synchronsprecherin Ilka Sehnert spricht dazu Textpassagen ein. Tom Hillenbrand gibt zuweilen aber auch selbst den Vorleser: In verschiedenen Live-Lesungen hat er aus eigenen und aus fremden Texten vorgetragen. Die letzte Ausgabe mit Edgar Allen Poes "König Pest" ist noch auf dem Twitch-Kanal des Autors verfügbar.

Allen Widrigkeiten der Krise zum Trotz hat sich sogar ein Online-Literatur-Festival formiert. "Viral" wurde von den Autoren Melanie Katz, Kathrin Bach und Donat Blum initiiert. Seit dem 15. März lesen dort mehrmals wöchentlich etablierte und aufstrebende Autoren, darunter auch der Münchner Schriftsteller Nikolai Vogel. Ab und an gastieren auf der virtuellen "Viral"-Bühne auch ganz reale Veranstalter wie die junge Lesereihe "Stuck und Drang" aus Frankfurt an der Oder. Kreativ und vernetzt wie selten zuvor, scheint die junge deutsche Literaturszene durch diese Krise nicht nur getroffen, sondern vor allem auch be-flügelt zu sein.

Décaméron-19 , abrufbar unter burgtheater.at/decameron-19 und thalia-theater.de/startseite/thaliadigital-decameron19; Benefiz-Lesungen von Saša Stanišić , abrufbar auf dem YouTube-Kanal von Random House; Lesung von "Desintegriert Euch" , abrufbar unter instagram.com/desintegriert_euch; "Backlist"-Podcast und Lesung von Tom Hillenbrand, abrufbar unter tomhillenbrand.de/backlist und twitch.tv/tomhillenbrand; Viral - Das Online-Literaturfestival in Zeiten der Quarantäne, Stream und Programm unter www.facebook.com/glitteratur

© SZ vom 07.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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