Unterwegs in München:Querschnitt auf Schienen

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Die Tramlinie 19 führt von Pasing bis Berg am Laim, einmal durch die ganze Stadt. Baustellen haben die beliebte Strecke geteilt, Corona hat die Bahn leergefegt. Eine Fahrt durch das beruhigte München

Von Sabine Buchwald

Noch ist es dunkel um halb acht Uhr morgens. So ist das im Münchner Winter, auch wenn um den Jahreswechsel die Tage langsam wieder länger werden. Mario Rothe sitzt am Steuer der Tram 19. Er wird gleich losfahren in den Tag, in Richtung Innenstadt. Ruhig ist es hier heute am Vorplatz des Pasinger Bahnhofs. Ein paar bunte Weihnachtsdekolichter zucken noch. Rothe schaut durch die Frontfenster zum backsteinroten Bahnhofsgebäude. Es kommt niemand angerannt und möchte in letzter Sekunde mitgenommen werden. Rothe muss sein Gewissen nicht prüfen, ob er die Türen noch mal öffnen soll für einen keuchenden Last-Minute-Fahrgast. Er kann jetzt einfach pünktlich abfahren.

Die Tramlinie 19 gilt auch als "Sightseeing-Linie". Wer mit ihr von Pasing nach Berg am Laim fährt, einmal quer durch die Stadt, sieht den Justizpalast, den Alten Botanischen Garten, die Residenz und viele Münchner Sehenswürdigkeiten mehr. Seit einigen Monaten aber ist die beliebte Strecke wegen der Bauarbeiten am Hauptbahnhof unterbrochen. Gäste aus der Ferne gibt es keine derzeit.

Mit einer fast leeren Straßenbahn startet Rothe an diesem Zwischen-den-Jahren-Werktag. Nur ganz am Ende rutscht eine Person in karierter Jacke immer tiefer in den Sitz, als ob sie unsichtbar werden wollte. Womöglich sucht sie die Heizungswärme des öffentlichen Nahverkehrs, in dem sich gerade niemand näherkommen möchte. Die zweite Station ist das Pasinger Rathaus. Hier wartet gut ein halbes Dutzend Menschen. Mit viel Abstand steigen die Leute an den einzelnen Türen ein. Der ein paar Meter entfernte Pasinger Marienplatz ist seit sieben Jahren nicht mehr die Endhaltestelle der Linie 19 im Westen. Seit Dezember 2013 gibt es auch nicht mehr die Wendeschleife um die goldene Mariensäule, um die die Bahnen jahrzehntelang ratterten. Das enge Miteinander aus Tramschienen, Autospuren und Ampelübergängen für Passanten konnte eine fiese Falle für Führerscheinprüflinge sein. Ältere Pasinger werden sich daran erinnern.

Auch Mario Rothe kannte das noch, allerdings aus Trambahnfahrersicht. 29 Jahre dirigiert er nun schon die blauen Züge durch die Stadt. Nicht mehr lang, dann hat er was Rundes zu feiern. Er wirkt stolz, als er das aus dem kleinen Fenster seines Corona-sicheren Fahrerkabuffs heraus erzählt. Hier ist er für sich, hier muss er keine Maske tragen. Fahrgäste sollen ihn möglichst nicht stören, sagt ein Schild an seiner Tür.

Die ehemalige Stadt Pasing hat sich gewandelt, seitdem es die Einkaufs-Arkaden gibt und der Autoverkehr über eine Nordschleife umgeleitet wird. Und ständig ändern sich Tramstreckenverläufe aufgrund von Baustellen. Rothe lacht und zuckt mit den Schultern. So ist das halt.

In einem Stück vom Westen in den Osten fahren, das geht für eine Weile nicht mehr. Dort, wo am Hauptbahnhof die Schalterhalle aus den Fünfzigerjahren stand, wird die Linie 19 jetzt zur 20. Als solche fährt sie weiter über die lange Dachauer Straße. Eine Rennstrecke für manche Tramlenker, über die sie ihr Gefährt jagen und an jeder Station hart abbremsen. Sie führt nach Moosach zur "Meile", auch ein massentaugliches Shoppingareal.

Wer an diesem Tag schon vor acht in die Tram steigt, hat aber andere Motive als Shoppen. Eine junge Frau murmelt etwas unter ihrer Mund-Nasen-Bedeckung, was wie "putzen" klingt. Ein Mann in blauer Steppjacke erklärt um deutlicher, dass er vor Silvester noch ein paar Vertragsabschlüsse machen müsse. Wohl wegen der Mehrwertsteuer, denkt man, die wieder auf 19 Prozent klettert. Normalerweise arbeite er jetzt fast immer zu Hause, erklärt der Mann, oder nehme das eigene Auto. Da fühle er sich coronatechnisch sicherer. Früher sei er gerne mit der 19 durch die schöne Maximilianstraße gefahren, sagt er noch, bevor er seinen schmalen Laptop-Rucksack nimmt und an der Donnersbergerbrücke grüßend aussteigt. Tür auf, Mann raus, kalte Luft rein, Tür zu. So geht Stoßlüften.

Um an die Theatinerstraße und von dort etwa zu Chanel oder Dior zu kommen, muss man die Unterbrechung zu Fuß bewältigen. Weiter geht es am Stachus oder Sendlinger Tor. Auf einem Teil der Strecke lenkt Amir Rezai das Schienenfahrzeug. Er sei damit schon um 5.35 Uhr ausgerückt, erzählt er. Um 8.29 Uhr müsse er am Max-Weber-Platz an einen Kollegen übergeben. Sein Arbeitstag geht dann weiter mit dem Bus. Er sei ein Kombifahrer, sagt er. "Busfahren ist spannender."

"Bitte achten Sie beim Aussteigen auf Radfahrer", warnt eine Stimme mit Bayerntonfall vor der Oper und den Kammerspielen. Über dem Theatereingang ist auf einem weißen Banner zu lesen: "Ohne Kunst wird's still". Still ist es auch in der Tram, niemand unterhält sich, man sitzt mit Distanz. München ist im Coronamodus. Keine Blätter an den Bäumen, man sieht Schönes und Hässliches. Eine beruhigte Stadt.

Später tauscht Rezai seinen Sitz mit Anela Marjanič, einer jungen Frau mit lila Wollmütze. Sie ist erst seit April als Fahrerin unterwegs. Alle Fahrer müssen alle 13 Linien lenken können. Der Wechsel dauert nur Sekunden. Schnell fährt sie weiter, vorbei am Leuchtenbergring, wo ein Denkmal auf zwei Pferdewagen hinweist, die 1861 die ersten öffentlichen Verkehrsmittel Münchens waren. An der Endhaltestelle Berg am Laim überprüft Marjanič gewissenhaft den Stand des Bremssandes, schüttet etwas nach und rauscht wieder ab.

Anton Maier steht schon mit der nächsten Tram bereit. Im Zehn-Minuten-Takt geht es wieder Richtung Maximilianeum und Innenstadt. Er hat heute Dienst auf einem kleinen TZ (Traktionszug), "Reisebügeleisen" oder "Babytram" sagen Insider dazu. Auch er füllt Sand nach: Laub auf den Schienen könne ganz schön schmierig werden. Der Sand falle von allein beim Bremsen, und über einen Knopf könne man noch extra etwas abwerfen. Auch er ist ein Neuling und froh, dass er in Corona-Zeiten anfangen durfte: weniger Berufsverkehr, kaum Touristen. Drei Monate dauerte die Ausbildung für ihn als Quereinsteiger. Er ist ein sanfter Fahrer, der Haltestellen vorausschauend anfährt. Er mag seinen Job.

© SZ vom 04.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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