Und jetzt?:Ein Jahr Bahnverspätung als Schal

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"Lange Verspätungen ab einer halben Stunde oder Verspätungen bei beiden Zugfahrten wurden rot." (Foto: oh)

Stricken statt wüten: Bahnfahrerin Claudia Weber dokumentiert ihren Pendler-Alltag mit Handarbeit

Interview von Florentina Czerny, München

Defekte Türen, Schienenersatzverkehr, Weichenstörungen - auf ihrem täglichen Arbeitsweg muss die Pendlerin Claudia Weber, 55, immer wieder mit teils erheblichen Bahnverspätungen kämpfen. So werden aus den üblichen 40 Minuten Arbeitsweg gut und gerne einmal zwei Stunden in eine Richtung. Ihren Berufsweg innerhalb eines Jahres dokumentierte sie auf eine besondere Weise: Sie strickte einen Schal. Vom Ergebnis postet ihre Tochter Fotos auf Twitter und erhält unzählige Reaktionen: Mehr als 13 000 User favorisieren den Tweet und mehr als 3 700-mal wurde er geteilt.

SZ: Ein selbstgestrickter Schal ist eine ungewöhnliche Weise, seinem Ärger Luft zu machen.

Claudia Weber: Ich hatte nach über 25 Jahren Pendeln den Eindruck, dass ich ständig zu spät komme. Man kann es nach gewisser Zeit einfach nicht mehr beurteilen, ob das eine Einbildung ist oder ob das stimmt. Ich wollte keine Strichliste führen. Deswegen habe ich mir gedacht, ich muss das irgendwie ein bisschen anders ausdrücken. Ich stricke selbst sehr gerne und dachte, das ist eine unterhaltsamere Weise, als die Verspätungen einfach aufzuschreiben.

Was wollen Sie mit Ihrem Projekt zeigen?

Eigentlich wollte ich mir selbst vor Augen führen, ob die Bahn tatsächlich immer zu spät ist, oder ob das nur dieser Pendlerfrust ist, bei dem man sich vieles auch einredet, weil sich einiges aufstaut. Aber der Schal ist dann doch ziemlich bunt geworden.

Welche Bedeutung haben die Farben?

Die Grundfarbe Grau steht für leichte Verspätungen von unter fünf Minuten. Rosa zeigt Verspätungen ab fünf Minuten bis zu einer halben Stunde. Lange Verspätungen ab einer halben Stunde oder Verspätungen bei beiden Zugfahrten wurden rot. Für jede Verspätung habe ich zwei Reihen am Abend gestrickt.

Es ist ja ganz schön viel Rot in Ihrem Schal ...

Es war auch ein krasses Jahr, weil es über sechs Wochen eine komplette Streckensperrung mit riesen Chaos gab. Ich war zwischen vier und fünf Stunden am Tag unterwegs, obwohl ich normalerweise nur um die 40 Minuten zur Arbeit brauche.

Wie sehr haben Sie sich denn geärgert über die vielen Verspätungen?

Es war so eine Mischung aus Resignation, Frust und Ärger. Ich bin ja trotz allem froh, mit der Bahn pendeln zu können und dass es den Service gibt. Ich würde mir nur wünschen, dass von Politik und der Bahn ein bisschen mehr Geld investiert werden würde, damit der Service auch funktioniert. Leicht zu vermeiden wären zum Beispiel fehlende oder falsche Informationen - oft weiß man ja nicht mal, wohin ein Zug überhaupt fährt.

Glauben Sie, dass kreative Ideen wie diese tatsächlich was ändern können?

Schwer zu sagen. Aber man kann das Problem ins Bewusstsein bringen und sichtbar machen. Das bleibt einem schon im Gedächtnis, wenn man auch was Konkretes sieht und nicht nur Zahlen liest.

Ihre Tochter hat ein Bild des Schals auf Twitter gepostet. Darauf haben unglaubliche viele reagiert - was sagen Sie zu dem ganzen Rummel?

Das hätte ich nicht erwartet, aber es zeigt schon, dass ganz viele Leute sagen: Kenn ich. Es gibt schon sehr viele Leute, die viel Zeit mit der Bahn verbringen und nicht immer gute Erfahrungen damit machen.

Wie oft haben Sie denn Schal schon getragen?

Noch gar nicht, ich habe ihn ja gerade erst fertiggestellt. Ich muss den Schal aber gar nicht unbedingt selbst tragen, es ging mir mehr um das Bild, das ich erzeugen wollte. Ich würde den Schal lieber versuchen zu versteigern und den Erlös an die Bahnhofsmission zu spenden. Damit irgendetwas Positives damit gemacht werden kann.

© SZ vom 08.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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