Und jetzt?:Angst vor Armut

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Eine Abtreibung sei schambesetzt, sagt Sabine Simon. "Es gibt immer noch Frauen, die nicht einmal mit ihrem Partner darüber sprechen wollen." (Foto: Catherina Hess)

Die evangelische Schwangerschafts-Beratung wird 40 Jahre alt. Leiterin Sabine Simon spricht über sinkende Abtreibungs-Zahlen und gleichbleibende Probleme

Interview von Inga Rahmsdorf, München

Sabine Simon berät bei Fragen zu Sexualität, Familienplanung und Schwangerschaft. Sie leitet seit elf Jahren die Schwangerschafts-Beratung des Evangelischen Beratungszentrums München, die an diesem Donnerstag ihr 40-jähriges Bestehen feiert.

SZ: Sexualität ist kein Tabuthema mehr und in Deutschland sinkt die Zahl der Abtreibungen. Ist der Aufgabenbereich des Beratungszentrums in den vergangenen 40 Jahren geschrumpft?

Sabine Simon: Das könnte man meinen. Tatsächlich sind die Konfliktberatungen bei ungewünschten Schwangerschaften auch im Verhältnis weniger geworden. Sie machen nur noch etwa ein Drittel unserer Beratungen aus. Aber die Nachfrage nach allgemeinen Beratungen ist über die Jahre gestiegen. Das gilt auch bundesweit.

Eine Abtreibung führt heute nicht mehr zum gesellschaftlichen Aufschrei. Was bedeutet sie für die betroffene Frau?

Es hat sich viel verändert, trotzdem ist eine Abtreibung immer noch für viele sehr schambesetzt. Allen Frauen ist ihre Verantwortung für die Tragweite der Entscheidung bewusst. Einige sind verzweifelt, fühlen sich überfordert. Manche haben Schuldgefühle. Es gibt auch immer noch Frauen, die nicht einmal mit ihrem Partner über die Abtreibung sprechen wollen.

Fühlen die Frauen sich von der Gesellschaft verurteilt?

Man bekommt zu hören: Eine Abtreibung ist doch heute gar nicht mehr nötig, man hat doch Zugang zu allen Informationen und Verhütungsmitteln. Aber trotz einer guten Aufklärung kann immer etwas schiefgehen. Keine Verhütungsmethode ist 100 Prozent sicher. Früher galt es auch als Schande, alleinerziehend zu sein. Das ist für die Durchschnitts-Münchnerin heute kein Thema mehr. Aber die Angst vor der existenziellen Not, die ist geblieben. Das Armutsrisiko ist immer noch am höchsten für alleinerziehende Frauen.

Spielt der Münchner Wohnungsmarkt bei diesen Ängsten auch eine Rolle?

Ja, und bei Wohnungsnot können wir immer weniger helfen. Früher gab es zum Beispiel eine Stelle im Wohnungsamt für Schwangere, an die wir uns wenden konnten. Aber heute bringt auch das nichts mehr angesichts der Diskrepanz zwischen Wohnungsnachfrage und Angebot.

Sind die hohen Lebenshaltungskosten oft ein zentraler Punkt für eine Abtreibung?

Zentral nicht, aber ein wichtiger Punkt. Wenn man vorher in einer halbwegs sicheren Position war, dann ist der Fall umso größer. Weil ich mir beispielsweise meine Wohnung nicht mehr leisten kann. Dann schauen wir mit der Frau und stellen eine Rechnung auf: Wie viel Elterngeld bekomme ich? Was kann ich vom Kindsvater erwarten? Welche staatlichen Unterstützungen stünden mir zu? Das dröseln wir auf, damit sie eine Vorstellung davon gewinnt, wovon sie und ihr Baby leben werden.

Führt das zu einer anderen Entscheidung?

Vielleicht nicht unbedingt dazu, dass die Frau ihre Entscheidung zum Abbruch revidiert. Aber wir können gemeinsam weiter schauen: Bleibt die Angst? Oder sind es eigentlich nicht finanzielle Gründe, sondern gibt es etwas anderes, das mich zögern lässt? Dann kommt man an tiefer liegende Faktoren.

Wenn sich eine Frau für eine Abtreibung entscheidet, lassen Sie das so stehen?

Ja. Die Beratungen sind immer ergebnisoffen. Wir haben zwar den gesetzlichen Auftrag, die Frau zu einem Leben mit Kind zu ermutigen. Aber damit ist nicht gemeint, sie zu etwas zu drängen. Das würde gar nichts bringen, im Gegenteil. Wir können ihr aber zusagen, dass sie jederzeit kommen kann, dass wir ihr helfen, dass wir zum Beispiel finanzielle Unterstützungen für sie suchen können und soziale Hilfen organisieren. Aber ich überrede sie nicht. Der Parameter für eine gute Beratung ist bei uns nicht, dass die Frau sich am Ende für das Kind entscheidet.

Was macht dann eine gute Beratung aus?

Wenn die Frau das Gefühl hat, dass sie die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen kann - informiert und nach reifer Überlegung.

Wer in Deutschland eine Schwangerschaft abbricht, muss sich zuvor beraten lassen. Ist es sinnvoll, dass die Frau zur Beratung gezwungen wird?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass so eine Pflichtberatung nichts bringen kann. Tatsächlich haben wir aber überwiegend positive Rückmeldungen von den Frauen und von deren Partnern, wenn sie dabei waren. Viele Frauen sagen: Ich werde meine Meinung durch die Beratung vielleicht nicht ändern, aber es hat gut getan. Viele Frauen hätten, bevor sie in dieser Situation waren, nie gedacht, dass es so schwer sein würde, und sind daher froh, eine neutrale Ansprechperson zu haben.

Sie sagten, dass es bei zwei Drittel der Beratungen nicht um einen Schwangerschaftsabbruch geht. Worum dann?

Um alle Themen während der Schwangerschaft und in den ersten drei Lebensjahren des Kindes, wirklich alle! Ganz oft sind es finanzielle Sorgen. Oder wenn der Arbeitgeber Druck macht.

Es gibt einen Babyboom in München. Bekommen Sie den Andrang zu spüren?

Ja, wir haben eine hohe Nachfrage. In der Konfliktberatung dürfen wir keine Wartezeit haben, maximal drei Tage. Aber in der allgemeinen Beratung kommt es schon mal vor, dass unsere Klienten drei Wochen auf einen Ersttermin warten. Und das ist in manchen Krisensituationen zu lang, weil nicht nur die Frau unter dem Stress leidet, sondern es auch direkten Einfluss auf das ungeborene Kind hat. Und manchmal ist es zu lang, weil die Frau schon bestimmte Dinge hätte erledigen müssen.

© SZ vom 19.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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