Therapiehunde:Chanel passt auf

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Leoni Kisslinger ist an Diabetes erkrankt. Ihre Hündin Chanel ist nicht nur ein geliebtes Haustier, sondern im Ernstfall auch ein Lebensretter. (Foto: Robert Haas)

Die elfjährige Leoni hat Diabetes, eine Krankheit, die tödlich enden kann. Doch sobald das Mädchen in den Unterzucker fällt, erschnuppert ihre Hündin die Unordnung im Stoffwechsel und bellt wie verrückt - aus Freude über den wunderbaren Duft

Von Karl Forster

Es dauert keine zehn Sekunden, da wird Chanel fuchsteufelswild. Bellt wie verrückt. Aber warum? Aus Jux und Tollerei, weil es in diesem Biergarten so schön ist? Oder aus Angst um Leoni, die in großer Gefahr sein könnte? Das, was die eineinhalb Jahre alte Hündin Chanel eben erschnuppert hat, ist der Geruch einer Krankheit, die tödlich enden kann, greift man nicht von außen ein. Leonis Krankheit. Sichtlich stolz zieht Leoni das Stück Stoff wieder unter ihrem T-Shirt heraus, gibt es ihrer Mutter, die packt es in eine luftdichte Plastiktüte mit ebenso dichtem Verschluss. Und schon sitzt Chanel wieder da, als wäre nichts gewesen, nur ihre Augen sagen: Wo bleibt meine Belohnung? "Jaja, ein Leckerli", sagt Andrea Kisslinger und greift in den Vorratsbeutel. Soeben hat Chanel durch dieses Bellen der elfjährigen Diabetikerin Leoni das Leben gerettet. Zumindest hier im Test. Dennoch bellte Chanel nicht aus Angst um Leoni. Für sie ist es das Tollste überhaupt, wenn Leoni in Unterzucker fällt. Weil das so wunderbar riecht. Und weil sie dann, wenn sie deswegen bellt, ein Monsterleckerli bekommt.

Chanel ist eigentlich ein ganz normaler Hund, ein Mini-Aussie, also die Kleinausgabe der zurzeit recht beliebten Rasse Australian Shepherd. Sie liegt im Biergarten vom Metzgerwirt in Nymphenburg brav auf ihrer Decke, als ob sie schliefe und die Welt um sie herum schwer in Ordnung sei. Das besondere an Chanel: Sie hat gelernt, feinste Gerüche zu erkennen, die Leonis Körper freigibt, wenn Anzeichen für Unordnung im Stoffwechsel des Kindes auftauchen. Sie weiß zwar nicht, was Hypo- oder Hyperglykämie bedeuten, aber sie hat gelernt: Wenn Leonis Körper anfängt, diesen gewissen Geruch zu verbreiten, weil der Zuckerhaushalt nicht mehr stimmt, dann muss sie Alarm schlagen, sehr laut und sehr deutlich. Sie hat auch gelernt, dass sie dann auf Kommando das Päckchen mit der Fernsteuerung für die Insulinpumpe holen muss. Und befiehlt Leoni, weil es gerade Nacht ist und stockfinster, "Licht!", dann stupst Chanel den Schalter auf dem Fußboden an. Chanel ist ein Diabeteswarnhund.

Es ist ein Phänomen der Natur, das Hunde dazu befähigt, Menschen in Not zu helfen. Sie finden Lawinenopfer unterm Schnee, sie leiten Blinde durchs Verkehrsgewühl, sie erschnuppern über Kilometer den Weg von Vermissten, auch wenn die Spur schon viele Tage alt ist und es geregnet hat. Und sie spüren es, wenn der Insulinhaushalt im Körper kippt.

Was natürlich so nicht stimmt. Carina Waldmann ist Hundetrainerin und zusätzlich spezialisiert auf die Ausbildung von Diabetikerwarnhunden. "Egal ob Drogenhund, Lawinensuchhund oder Mantrailer, der Weg ist immer der gleiche: Wir bringen den Hunden bei, dass es was ganz Wunderbares ist, wenn sie finden, was sie finden sollen. Dann gibt es, was wir positive Bestätigung nennen: ein fettes Leckerli oder eine bestimmte Art der Umarmung. Das speichert der Hund im Laufe solch eines Trainings ab. Für sein ganzes Leben."

Die Diagnose Diabetes traf Leoni, als sie neun Jahre und in der dritten Klasse der Grundschule war. Eine Schreckensnachricht für die ganze Familie, deren volles Ausmaß erst langsam deutlich wurde. Denn Diabetes, eine Autoimmunkrankheit des Stoffwechsels, birgt nicht nur die Gefahr, Folgekrankheiten von Bluthochdruck mit all seinen Risiken bis zum lebensbedrohlichen Herzinfarkt zu erleiden, sondern unterwirft das Leben des Patienten neuen, brutalen Regeln. Was das für ein Kind bedeutet, und so auch für dessen Eltern, das wurde Leoni und der ganzen Familie Kisslinger erst langsam klar.

Leoni erzählt von diesen Tagen nach der Diagnose, sie erzählt von ihrer Krankheit, davon, dass sie so viel Durst gehabt habe auf einmal, dass sie immer auf die Toilette gemusst habe, aber auch davon, wie sehr sie ihre Klassenkameradinnen später unterstützt hätten. Sie erzählt von den Spritzen zwei Mal täglich. Und benützt dabei die Begriffe der Fachterminologie mit fast erschreckender Lässigkeit, sie spricht ruhig, gefasst, als ob sie das Problem Diabetes eher von außen betrachte. Die Elfjährige wirkt, als sei sie etwas zu schnell erwachsen geworden. Nur wenn sie anfängt, von Chanel zu erzählen, wird Leoni wieder das Kind, das sich so unendlich über diesen Hund freut. Dabei wollte der Papa eigentlich keinen Hund. Hat's nicht so damit.

Vielleicht hat es in dieser schwierigen Situation geholfen, dass Leonis Mutter Andrea als niedergelassene Psychotherapeutin arbeitet, also mit Seelenstress vertraut ist. Sicher ist es günstig, dass Leonis Vater als selbstständiger Sachverständiger sein Büro zu Hause hat. Auch der Umstand, dass sich Leonis Familie die gut 12 000 Euro teure Ausbildung Chanels zum Diabeteswarnhund leisten konnte, tut das seine. Aber am allermeisten zeigen sich Mutter und Tochter darüber begeistert, wie toll damals die Theresia-Gerhardinger-Grundschule am Anger und jetzt das Maria-Ward-Gymnasium in Nymphenburg reagiert haben. Sogar im Schwabinger Kinderkrankenhaus bekam Leoni noch mit, was in der Schule los ist. Dass das nicht immer und überall so ist, weiß Andrea Kisslinger spätestens, seit sie in einer Diabetiker-Elterngruppe ist. "Es gibt Kindergärten, die lehnen Diabetikerkinder schlichtweg ab." Und auch in manchen Schulen stellt man sich der Verantwortung ungern. "Da sind die Lehrer oft ohnehin schon überlastet."

Heute scheint es, als sei die Krankheit, die Leoni wahrscheinlich ein Leben lang begleiten wird, für sie fast schon eine Routineangelegenheit. Die Liebe aber zu Chanel wird sicher nie Routine werden, das spürt, wer die beiden beobachtet. Und wer weiß wirklich, ob der Hund nicht doch ahnt, welche Verantwortung er trägt. Da ist noch vieles unerforscht. Ein Beispiel nur: Vormittags ist Chanel in einer Hundepension untergebracht. Leonis Mutter fährt ihn dort hin, bevor sie in die Praxis geht. Doch zweimal schon ist sie ausgebüxt und kilometerweit zielsicher nach Hause gelaufen. Obwohl sie den Weg vorher noch nie gegangen war.

Noch ist Chanel nicht ganz fertig ausgebildet. Noch trainieren Mutter und Tochter täglich mit dem zuckerschweiß-kontaminierten Shirt. Noch glaubt Chanel auch, ihre Familie gegen alles Fremde verteidigen zu müssen, vor allem zu Hause. Daher das Treffen im neutralen Biergarten. Doch bald wird Chanel ihre Rolle und ihre Rangordnung in Leonis Familie gefunden haben. Das ist lebenswichtig. Denn Trainerin Carina Waldmann warnt: "Gewinnt ein Hund die Oberhand in dem Familienrudel, wird er nicht mehr anzeigen. Dann denkt er sich: Warum soll ich für dich arbeiten?"

Die Gefahr ist gering bei Chanel. Als Leoni und ihre Mutter den Biergarten verlassen, trippelt sie bei lockerer Leine neben dem kleinen Menschen, der ihr sein Leben anvertraut hat. Es sieht hübsch aus. So lebensbejahend.

© SZ vom 30.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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