SZ-Serie: Mensch  und Tier:Das Geheimnis der blauen Zunge

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Giraffen verfügen über eine ganz erstaunliche Körperbeherrschung und tricksen ihren Pfleger Martin Kersten auch schon mal aus

Von Philipp Crone, München

Diese Zunge ist nicht nur ungewöhnlich, weil sie blau, rau und einen halben Meter lang ist. Für Tierpfleger Martin Kersten ist das, was die fünfjährige Limba mit ihrer Zunge anstellen kann, vor allem ein weiterer Beleg dafür, wie erstaunlich Giraffen sind. Kersten, Hamburger Slang, kurze Haare, geht mit den definierten Bewegungen eines durchtrainierten jungen Mannes von den Stallungen zum Außengehege der Giraffen und zeigt auf eine Holzplatte, die neben einem Sicherungskasten an einer Wand angebracht ist. Es ist eine Art provisorische Zungensicherung. Die Geschichte, warum da nun ein Brett montiert ist, die hebt sich der 27-Jährige Tierpfleger für den Schluss auf - es ist die faszinierendste, die er erzählen kann über Limba, Taziyah, 3, und Bahati, 5. Wer täglich zu den Besuchern in Hellabrunn über diese Tiere und ihre Besonderheiten spricht, hat schnell gelernt, einen Spannungsbogen aufzubauen. Zweimal in der Woche gibt es in Hellabrunn das sogenannte Giraffen-Rendezvous, bei dem Besucher eine Privatführung bekommen.

Kersten beginnt erst einmal mit den Grundlagen. Die Tiere bekommen Luzerne, ein Klee-Gewächs, "in Afrika ist ihr normales Futter die Schirm-Akazie", die sie dann auf fünf Meter Höhe mit der blauen Zunge bearbeiten. "Blau ist die Zunge wegen der dicken Hornhaut", und die dicke Hornhaut auf der Zunge erlaubt es den Tieren, robust mit der Zunge an Blättern und Ästen zu zuzeln, was Kersten, der aus Berlin stammt, natürlich nie so formulieren würde. "Die Akazien haben bis zu acht Zentimeter lange Dornen", und die spürt man mit Hornhaut eben weniger.

Mit Martin Kersten schmusen die Langhälse gerne - aber wenn sie wütend werden, können sie gewaltig austreten, sagt der Pfleger. (Foto: Catherina Hess)

In Hellabrunn gibt es aber keine Akazien, da wird den Tieren immer mal wieder ein Jungbaum ins Gehege gestellt, ansonsten gibt es Salat, Petersilie oder Spinat, abends Zwiebeln und Gemüse, "und einen Apfel". Da die Tiere in freier Wildbahn kaum Zucker bekommen, würden sie zu dick, wenn es im Zoo mehr Früchte gäbe.

Kersten hat einen Eimer mit Akazien-Pellets dabei, als er neben dem Spannungskasten wartet, dass Limba und Co. zu ihm herüberlaufen. Seit einem Jahr ist Kersten in München, vorher war er in Berlin, wo er herkommt. Als Schüler war er im Schulzoo aktiv, dann die Ausbildung, dann war er in Hamburg zehn Jahre lang für die Raubtiere zuständig. Vom Jäger zum Gejagten also ist er gewechselt. "Man glaubt ja immer, dass sich die Giraffen gegen einen Löwenangriff nicht wehren können, aber das stimmt nicht." Kurze Kunstpause, Limba lutscht ein paar Pellets aus Kerstens Hand, dann sagt der Pfleger: "Die können mit den Beinen unglaublich austreten, und zwar auch zur Seite und nicht, wie ein Pferd, nur nach hinten. Wenn die einen Löwen erwischen, kann das tödlich sein." Aber zunächst würden die Giraffen die Flucht ergreifen, und da haben sie keine schlechten Chancen, bei einer Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern.

Limba hat ihren Kopf gesenkt, dann knackt es im Gebüsch, der Kopf schnellt nach oben. Kersten lächelt und deutet auf die Brust des Tieres. "Das Herz wiegt 14 Kilo, und es ist ein Kunstwerk der Natur, wie der Kreislauf dieser Tiere einen Kopf auf fünf Meter Höhe versorgt, der auch noch ab und zu ganz schnell hoch und runtersausen muss." Wenn die Giraffe den Kopf senkt, um zu trinken, schießt ihr das Blut in den Kopf, "wo es aber von einer Art Schwamm aufgefangen wird", und genauso ist es, wenn die Tiere den Kopf heben. Venenklappen verhindern zusätzlich, dass zu viel Blut auf einmal fließt.

Limba legt den Kopf schief und versucht, mit der Zunge in Kerstens Eimer zu kommen. Der gibt ihr einen Klaps, der Kopf rast hoch, das Blut bleibt im Schwamm. Noch ein paar Informationen, bevor Kersten das Holzbrett erklärt. Das Hochziehen geht so schnell, weil eine Sehne gespannt wird, wenn Giraffen den Kopf senken. Die sorgt normalerweise dafür, dass der Hals auf 55 Grad gehalten wird. "Die Tiere gebären im Stehen, das Jungtier fällt also aus zweieinhalb Metern auf den Boden. Das ist dann der Moment, in dem der Kreislauf loslegt, wie der Klaps des Arztes bei der Geburt eines Menschen." Eine halbe Stunde würden die Giraffen-Mütter dem Nachwuchs geben, dann zieht die Herde weiter. Selektion direkt nach der Geburt. "Und die Tiere werden bis zu 35 Jahre alt" und 800 Kilo schwer, sagt Kersten.

Und kommen dabei manchmal auf schlaue Ideen. "Die haben vor einiger Zeit mit der Zunge die Stecker am Sicherungskasten rausgezogen, die den elektrischen Zaun um das Gehege mit Strom versorgen." Und so konnten sie, bis Kersten und seine Kollegen etwas bemerkten, ganz in Ruhe einen Tag lang die Bäume in ihrer Reichweite am Rand des Geheges abnagen. Um das Brett herum sind sie bislang noch nicht gekommen.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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