SZ-Serie: Der Sound der Stadt, Folge 18:Die Wildnis ruft

Lesezeit: 4 min

Das Brüllen der Löwen, das Schnurren der Tiger, das Knacken der Knochen bei der Fütterung: Im Tierpark Hellabrunn machen sich Augen und Ohren auf eine Reise in eine fremde Welt

Von Anita Naujokat

Max und Benny legen eine Ruhe an den Tag, die faszinierend und unheimlich zugleich ist. Als seien sich die beiden fünf Jahre alten Löwenmännchen im Außengehege des Tierparks Hellabrunn ihrer Größe und Kraft bewusst. Der kleine Kerl von Vogel im Baum zwischen den Gehegen der Löwen und Elefanten löst ganze Kaskaden trocken raschelnder Blätter aus, die nach unten rieseln. Und der herumstolzierende Pfau hält so gut wie nie seinen Schnabel. Lauter als alles, was Löwen und Elefanten von sich geben. Von den Dickhäutern dringt allenfalls ein leises Schaben herüber, wenn ihr Schwanz mit der haarigen Spitze, einem Pinsel gleich, ab und zu über den Rücken fährt.

Der Mensch scheint auf dieser Skala irgendwo in der Mitte zu rangieren, mit Ausschlägen nach oben und unten. Im Tierpark wird derzeit kräftig gebaut. Das Hämmern, Rattern, Kreischen, Quietschen, Bohren und Schleifen der Baumaschinen und die Motoren der Handwerkerfahrzeuge vermischen sich mit dem Lachen der Besucher, mit dem Klang schreiender Kinder, dem klingelnder Handys und den Rufen von Tieren zu einem Klangteppich, wie ihn nur ein Tierpark komponieren kann.

Raubkatzen sind stille Wesen, lernt man von Tierpfleger Thomas Kaindl, der seit 24 Jahren im Münchner Tierpark Hellabrunn mit ihnen arbeitet und seit einiger Zeit zusätzlich die Tiere im Kinderzoo betreut. Löwen brüllen in der Regel nur morgens und abends, um ihr Revier zu markieren und die Konkurrenz auf Abstand zu halten. Kaindl sagt, dies sei Instinktverhalten, das auch bei Tieren, die nie in freier Wildbahn gelebt haben, vorhanden ist - auch im Zoo wird das Revier markiert. Dass Löwengebrüll angeblich bis zu neun Kilometer weit zu hören ist, mag Tierpfleger Kaindl weder bestätigen noch bestreiten, doch bis zum Candidplatz sei es je nach Windrichtung schon zu vernehmen. Diejenigen, die Tierlaute definieren, kennen für die Sprache der Löwen einzig das Wort "Brüllen". Beim Schriftsteller Karl May lassen sich auf Anhieb mehrere Stellen in einigen Bänden finden, in denen er in dramatischen Sätzen das Brüllen des "Herdenwürgers" oder des "Herrn mit dem dicken Kopf" als anschwellenden, grollenden Donner beschreibt, der sich endlich in einem grimmigen Rollen in Gebrüll verliere.

Die Faszination der Tiere am Isarufer: Im Tierpark Hellabrunn bewundern die Besucher unter anderem die mächtigen Löwen.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Pro Jahr lockt der Tierpark bis zu zwei Millionen Besucher an.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Thomas Kaindl umsorgt...

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

...und überwacht die Großkatzen seit 24 Jahren.

Thomas Kaindl, 42 Jahre, der seinen Beruf von der Pike auf in Hellabrunn erlernt hat, unterscheidet viel feinere Nuancen. Fauchen und Knurren künden von schlechter Laune, von Streit oder davon, "dass sie sonst was am Laufen haben". Kaindl spricht auch nicht wie landläufig vom Schnurren seiner sibirischen Tiger Ahimsa und Jegor. Er nennt es Prusten, ein sanftes "whiwhi", bei dem die ausgestoßene Luft die untere Lippe, besser: die Lefze vibrieren lässt - eine Geste des Beschützens oder zur Begrüßung. "Tiger fressen getrennt, und wenn sie wieder aufeinandertreffen, prusten sie sich an." Auch ihr Maunzen deutet er als eher positive Stimmung: "Sie wissen, wie schön sie sind", sagt Kaindl mit einem Blick auf die dösenden Tiere, "mit uns kommunizieren sie meist mit Gesten und der Art, wie sie auf uns zugehen."

Liegen die beiden Löwen Benny und Max morgens in ihrer Höhle noch im Tiefschlaf, weckt Kaindl sie mit dem Klappern des Schlüsselbundes und ruft schon mal "Burschen, wie geht's euch?". Ihre Antwort sind Blicke. Und klar ist: Der Kontakt wird immer ein indirekter sein.

Löwe und andere Großtiere haben an diesem trägen heißen Sommernachmittag noch keine Lust, ihre Stimmbänder zu strapazieren. Lautlos, aber trittsicher pirschen Max und Benny durch das Gras hinter die Felsen in den Schatten. Nicht ein einziges rollendes Steinchen ist auf ihrem Weg zu hören. Doch so gänzlich geräuschlos ist es auch bei ihnen nicht. Zwar sind die Zeiten vorbei, zu denen die stolzen Geschöpfe vor der Fütterung in Innengehegen unruhig an Gitterstäben entlangstreiften. Heute streichen sie aufgeregt hinter der dicken Glasscheibe im Dschungelhaus auf und ab, in dem nur das Plätschern des Wasserfalls, das Kreischen der Papageien und menschliches Stimmengewirr die heiß-feuchte Luft erfüllen. Auch fahren die Trennschieber zwischen Innen- und Außenbereich heutzutage nicht mehr ohrenbetäubend ratternd hoch und runter. Das funktioniert mittlerweile vollautomatisch und unhörbar fürs menschliche Ohr dezent im Hintergrund. Nur Max und Benny wissen sofort, was Sache ist - noch dazu nach einem Diättag, den sie zweimal in der Woche einlegen müssen. Wenn Kaindl die Kette vor dem Pflegebereich aushängt, klirrend die Tür zum Schleusengang aufsperrt, die Sicherheitsriegel schnappend zurückfahren lässt und das leicht knarrende Sichtfenster öffnet, um sich zu vergewissern, dass kein Tier im Schleusengang ist, registrieren die Löwen jeden Schritt ihres Pflegers; sie können selbst das Krabbeln eines Käfers auf einem Grashalm orten. Unpassend in dieser Tropenwelt wirkt einzig der Highspeed-Handtrockner am Haupteingang, der urplötzlich wie ein Staubsauger tosend losbläst. Doch die Tierparkverwaltung hat an alles gedacht: Der Riesenfön ist dafür gedacht, im Winter angelaufene Brillengläser schnell frei zu pusten.

Dröhnend springen Benny und Max schließlich nach draußen auf ihr Futter zu, eine Entenfamilie bringt sich plätschernd in Sicherheit. Als die Kiefer das tote Kaninchen umschlingen, knacken die Knochen leise im Rhythmus der Kaubewegungen. Kaninchen würden vollständig verzehrt, sagt Kaindl, vom Rinderrippenstück blieben die Knochen zurück. Ein Gähnen, danach das Schlabbern zweier Zungen, die sich Wasser in die Mäuler schaufeln. Bei Benny klingt das um einen Schlag leiser, doch mit seinen 130 Kilogramm ist er auch 50 Kilo leichter als sein Bruder. Danach ziehen sich die beiden auf leisen Pranken wieder in den Schutz unter die Bäume hinter den Steinen zurück.

In die plötzliche Stille hinein weht vom Dach des Elefantenhauses ein Lied zu den Löwen herüber. Unberührt von der Hitze, hat es sich ein Arbeiter auf der gleißenden Hülle gemütlich gemacht und vertreibt sich seine Pause mit Gesang. "Simba, "Simba", sagt ein Besucher zu seinem Sohn im Arm und deutet auf die dösenden Tiere. Hat man jetzt etwa ein neues Wort für Löwe gelernt? "No, no", lacht der aus Kuwait stammende Tourist und zeigt auf sein Handy-Display, "it's the name of a cartoon movie". Dazu imitiert der Vater für den Sohn noch das Knurren eines echten Löwen.

Und dann setzt es doch noch ein: ein heiseres "Roaaar", gefolgt von schnell aufeinander folgenden "chr", "chr", "chr" aus tiefster Kehle und allen Fasern des Körpers kommend. Der Ruf des Dschungels scheint die Luft zu verdichten, das Anschwellen spüren die faszinierten Zuhörer bis in die Magengrube. Und es hallt noch nach, wenn man längst wieder im Bus nach Hause fährt.

Am Montag lesen Sie: Der Sound der Stadt in den Stationen und Zügen der U-Bahn

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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