SZ-Serie: Auf die Plätze:Der Unvollendete

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Der Platz an der Münchner Freiheit, das urbane Herz Schwabings, ist bis heute Stückwerk. Seit zwanzig Jahren bemühen sich Stadtviertelpolitiker vergeblich, mehr aus ihm zu machen

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Es kommt nicht selten vor, dass Touristen an der Münchner Freiheit ein wenig verzagt herumirren. Die Besucher sind enttäuscht, weil sie den Mythos nicht finden können. "Wo ist Schwabing?", werden Passanten oft gefragt.

Die Touristen haben gelesen von diesem weltberühmten Stadtteil, von "Wahnmoching" und "Schwabylon". Sie kennen die Geschichten von den verrückten Bohemiens der Belle Epoche, sie sind informiert über die widerborstigen Studenten, die sich 1962 mit der Polizei Schlachten lieferten. Und freilich haben sie von der Schickeria gehört, die in Schwabing eine speziell Münchner Variante des Savoir-vivre auszuleben pflegte. Und jetzt?

Stehen sie an einem Platz, den sie als immer noch pulsierendes Herz der Legende vermuten - doch es dröhnt und wogt hier vor allem der Autoverkehr. Der Blick der auswärtigen München-Kenner irrt umher und registriert einen merkwürdigen städtebaulichen Verhau: Neben dem poppigen, weiß-grünen Tram- und Busbahnhof erstreckt sich ein abgesenktes Forum, das den nackten Beton-Flair der Siebzigerjahre hat. Doch an der Ostseite, im Schatten der großen Bäume, wird der Platz dann heimelig. Traute Paare turteln an Bistrotischen; Mütter und Väter beobachten ihre Kleinen, wie diese auf einem großen Abenteuerspielplatz herumturnen. Flaneure flanieren, Grantler granteln, Verliebte flirten. Das ist das zeitgenössische, das unaufgeregte und kunterbunte Schwabing-Savoir-vivre.

Wenn die Touristen Glück haben, treffen sie hier, beim Café Münchner Freiheit, auf den Senior-Chef Karl Eisenrieder. Denn der kann kurz und knapp charakterisieren, wie das zum Verhau-Eindruck der Münchner Freiheit passt. "Der Platz funktioniert bestens. Aber er ist unfertig, man könnte mehr daraus machen", sagt er.

Vor seinem Lokal lümmelt sich die Bronzefigur von "Monaco Franze" Helmut Fischer an einem Bistrotisch, ein Denkmal für das versunkene Schlawinertum. Der Schauspieler war Stammgast im Café des 77-Jährigen, ebenso wie Gloria von Thurn und Taxis; auch Regisseur Helmut Dietl schaute mit Veronika Ferres oft vorbei - elegante Gesellschaften, die damals schon auf ein seltsam gesichtsloses Ensemble schauten.

Das urbane Herz Schwabings ist bis heute Stückwerk: im Süden wuseliger Bahnhof, in der Mitte terrassierte Steinwüste, im Norden Parkplatz-Brache. Nur entlang der Häuserzeile an der Ostseite kann sich das Forum-Feeling entfalten. Karl Eisenrieder weiß: Vielen Anwohnern genügt das. Nach seiner Wahrnehmung ist für sie der fragmentarische Charakter der Münchner Freiheit nachrangig, so lange vor allem der Spielplatz unangetastet bleibt. "Sie haben Angst, dass man da einen Architekten ranlässt, der dann alles zubaut", sagt er.

Die Vorbehalte gibt es deshalb, weil sich in den vergangenen Jahrzehnten schon eine ganze Reihe von Architekten Gedanken über die Umgestaltung der Münchner Freiheit zum konsistenten Stadtraum gemacht hat. Davon kann der Bezirksausschuss-Vorsitzende Werner Lederer-Piloty (SPD) erzählen, übrigens selbst Architekt. Er kann sich durchaus aufregen darüber, dass im Zuge des U-Bahnbaus Anfang der Siebzigerjahre mit dem Ausbau der Ungererstraße die Erlöserkirche vom einstigen Dorfmittelpunkt, früher Feilitzschplatz genannt, schier abgeriegelt wurde. Der Bezirksausschuss hatte lange mit Pfarrer Gerson Raabe für einen Rückbau gekämpft - zuletzt mit Erfolg. Anfang 2017 will das Planungsreferat einen Beschlussvorlage für den Stadtrat fertig haben.

Gescheitert sind Lederer-Piloty und Kollegen jedoch bisher mit ihrem Wunsch nach einem Gesamtkonzept. "Der Platz funktioniert irgendwie", sagt Lederer Plioty und nennt etwa den - stadtweit durchaus berühmten - Weihnachtsmarkt oder den Kinderflohmarkt. "Aber stadträumlich ist das kein Platz." Er erinnert daran, dass das Forum mit den Wasserkaskaden einst als Entree geplant war zu einem großen Einkaufszentrum auf der Nordseite des Platzes. Damals gab es einen regelrechten Aufstand der Schwabinger Bürgerschaft, ebenso gegen den Bau eines Sparkassen-Gebäudes. Der Widerstand fruchtete, seitdem überdauert das "Forum" als Rudiment, flankiert von Läden, einem Bio-Markt und einem Café. Das Unfertige ist zur Dauerlösung geworden, zum großen Missvergnügen der Lokalpolitik. Seit zwanzig Jahren bemüht sich das Stadtviertelparlament vergeblich, eine Platz-Vollendung anzustoßen. Architektur-Professoren der Fachhochschule München (FHM) und der Technischen Universität (TU) ließen Studenten in Seminaren Entwürfe erarbeiten. "Die Münchner Freiheit gehört zu den Münchner Plätzen, die ein erhebliches städtebauliches Defizit aufweisen", lautet schon 2000 das Fazit in einem Katalog zu einer Ausstellung der FHM-Arbeiten, die in der Seidlvilla ausgestellt wurden. Einige Studenten wollten im Nordteil sogar ein Hochhaus hinpflanzen, das je nach Entwurf zwischen 40 und 120 Meter hoch sein sollte.

Nicht diese, aber andere Gedankenspiele hält Architekt und Politiker Lederer-Piloty bis heute für ziemlich gut: eine schlanke Bebauung entlang der Leopoldstraße etwa, um dem Platz ein Gefüge zu geben - und den Verkehrslärm von der Leopoldstraße abzuhalten. Zudem gelte es, über Alternativen für den Parkplatz an der Nordseite nachzudenken, etwa ein Kulturzentrum mit Bürgersaal. Doch dafür müsste dann wohl der Kinderspielplatz weichen. Und die Stadtspitze weiß, was Karl Eisenrieder, der Seniorchef im Café Münchner Freiheit, so formuliert: "Den werden die Schwabinger nicht hergeben. Die Leute werden mit Zähnen und Klauen darum kämpfen."

So oder so werden die Touristen hier wohl weiter nach dem Schwabinger Lebensgefühl suchen. Viele von ihnen fragen jetzt schon bei Alexander Vesely danach. Der 47-Jährige betreibt seit Ende 2014 den würfelförmigen Kiosk nebst dem Busbahnhof, ein beliebter Treffpunkt. Vesely, selbst in der Nähe aufgewachsen, hat folgende Antwort für die auswärtigen Besucher parat: "Hier sind die Genießer, nicht das Partyvolk." Er malt dann eine Szene aus von dutzenden Menschen, die auf den Stufen des Forums sitzen, die Füße ins Wasser der Kaskaden baumeln lassen, Eis schlecken, Limo trinken, in die Sonne blinzeln. Oder sie schauen den Schachspielern zu, die seit Jahrzehnten zum Inventar der Münchner Freiheit zählen. Viele, auch Münchener, so zeigt sich Vesely überzeugt, bemerken das Unfertige gar nicht. "Der Platz", so formuliert er, "ist viel schöner als er wirkt".

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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