SZ-Kultursalon:Außerordentliche Schönheit

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Darüber, wie Kunst im Lockdown entsteht, sprechen der Musiker Jörg Widmann und der Intendant des Heidelberger Frühlings, Thorsten Schmidt, mit Susanne Hermanski beim SZ-Kultursalon

Von Michael Stallknecht

Vor drei Wochen war Jörg Widmann in Madrid. Er hat dort ein Orchester dirigiert und Klarinette gespielt, im Auditorio Nacional de Música, vor dreimal jeweils eintausend Zuhörern. Nun gut, die Posaunen saßen wegen der Abstände so weit weg, dass er sie kaum sehen konnte, und bei Carl Maria von Webers Concertino für Klarinette war er "in einen übergroßen Plexiglaskühlschrank" eingepackt, wegen der Aerosole. Aber für ihn war es dennoch "eine beglückende Woche", wie er im SZ-Kultursalon sagt, die ihm zeigte: "Wo der politische Wille da ist, kann es gehen, in einer verantwortungsvollen Weise."

Schließlich haben nicht nur die Salzburger Festspiele, auf die die moderierende SZ-Kultur-Leiterin Susanne Hermanski hinwies, im vergangenen Sommer vor mehr als 70 000 Besuchern in über hundert Vorstellungen belegt, dass sich in einem modernen Konzertsaal oder Opernhaus niemand so leicht anstecken kann. Es stapeln sich inzwischen auch die wissenschaftlichen Studien, die umfangreich begründen, woran es liegt, dass bei Anwendung entsprechender Hygienekonzepte "ein Konzert kein Hotspot ist", wie Widmann im Alten Frauenbad in Heidelberg formuliert.

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(Foto: studio visuell)

Im wunderschönen Alten Badehaus und beim Heidelberger Frühling zu Gast: Der SZ-Kultursalon mit Susanne Hermanski, ...

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.. Jörg Widmann ...

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... und Thorsten Schmidt.

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(Foto: studio visuell photography)

Nach der "Schönheit im Außerordentlichen? Wie Kunst im Lockdown entsteht" fragten sich die Teilnehmenden.

Nach der "Schönheit im Außerordentlichen? Wie Kunst im Lockdown entsteht" fragte der SZ-Kultursalon, der, notgedrungen rein digital, diesmal im Rahmen des Musikfestivals Heidelberger Frühling stattfand. Komponisten sollte eine Antwort hier eigentlich leichter fallen als den vielen tausend freischaffenden Instrumentalisten, Sängern, Dirigenten oder Regisseuren, deren Existenz seit Monaten vor den Trümmern steht, ökonomisch wie in der Sinngebung. Zwar hat sich auch die Auftragslage vor allem bei weniger bekannten Komponisten dramatisch verschlechtert, aber immerhin benötigen sie nur Notenpapier und Computer für die Arbeit. Er habe sich in den vergangenen Jahren immer "fünf bis sechs Wochen Zeit nur zum Komponieren gewünscht", sagt der als Komponist wie Klarinettist normalerweise viel beschäftigte Widmann. Doch als im vergangenen Frühjahr der erste Lockdown kam, sei er wie gelähmt gewesen und konnte "über Wochen und Monate" nicht komponieren. Inzwischen geht es wieder, aber noch immer "fehlt unendlich dieser Austausch mit dem Publikum". "Das Liveerlebnis ist durch nichts zu ersetzen", auch nicht - inzwischen eine Binsenweisheit - durch Streamingangebote.

Thorsten Schmidt, Intendant des Heidelberger Frühlings, will denn auch gar nicht "das Digitale und das Analoge gegeneinander ausspielen". In den neuen Onlineformaten sieht er dennoch Möglichkeiten, die dem Konzept einer verbreiterten Teilhabe des Publikums entsprechen, das der Heidelberger Frühling schon länger pflegt.

Der Blick der Kamera ermögliche nicht nur eine größere Nähe, auch die Barriere für die Teilnahme sei niedriger als beim Livekonzert. Auch wer nur kurz reinschaut, könnte eventuell hängen bleiben und später vielleicht den Weg in den Konzertsaal finden. Einig sind sich er und Widmann darin, dass hier neue Formate entstanden sind, die die ausgetretenen Pfade des etablierten Symphoniekonzerts verlassen helfen könnten, etwa in Gestalt von kürzeren, kompakteren Programmen.

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Dennoch ist auch Thorsten Schmidt besorgt darüber, dass der gegenwärtige Umgang der Politik mit der Musik diese als "verzichtbar" erscheinen lässt, und zwar nicht nur in der Hochkultur, sondern ebenso an der Basis, wo von Haus aus viele Menschen an ihr teilhaben: indem sie miteinander singen und musizieren, vom Kirchenchor bis zur Blaskapelle. Die Kultur werde als etwas behandelt, "das man anwerfen kann, wenn alles andere wieder läuft". Er könne die "Hilflosigkeit" der Politiker durchaus nachvollziehen, sagt Schmidt. Aber es ärgert ihn, dass in den vergangenen zwölf Monaten nicht mal Konzepte für Wiedereröffnungen durchdacht worden seien, trotz der vielen Möglichkeiten, die die längst entwickelten Hygienemaßnahmen bieten.

Woran liegt es also, dass der politische Wille nicht da ist, dass die wissenschaftlichen Studien und Entwürfe der Veranstalterbranche ungelesen bleiben, dass man lieber auf einen Dauerlockdown setzt, der sich für die Kulturbranche inzwischen ins Unabsehbare zu strecken droht? An der mangelnden kulturellen Bildung von Politikern? Daran, dass heute auch in Bayern niemand mehr Kulturminister ist, der wie weiland Hans Maier selbst gut Orgel spielt, woran Susanne Hermanski erinnert? Dass beim Umgang mit der Pandemie inzwischen insgesamt "sehr viele moralische Begriffe mit im Spiel" seien und die Debatte fast schon religiös aufgeladen sei, wie sie fragt? So sehr, dass es sich, wie wiederum Jörg Widmann an sich selbst beobachtet hat, fast schon wie ein "krimineller Akt" anfühle, das Wort "Öffnung" überhaupt noch in den Mund zu nehmen?

(Foto: N/A)

"Unser bestes Argument ist die Musik", sagt Widmann und spricht damit etwas aus, was die Stärke wie in diesen besonderen Zeiten vielleicht auch Schwäche von Musikern ist: sich oft außerhalb ihrer Kunst kaum artikulieren zu können. Den Institutionen wiederum fehlt es häufig an den Ressourcen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, wie in einem Statement von Schmidt deutlich wird: Das Spielen vor wenigen oder gar keinen Zuschauern in diesem wie im vergangenen Jahr kostet enorm viel Geld. Und die Mitarbeiter sind mit dem beständigen Umplanen von Konzerten längst bis an den Rand des Möglichen ausgelastet.

Eine Hoffnung immerhin dringt am Schluss dieses epochenbedingt betrüblichen SZ-Kultursalons doch noch über den Äther beziehungsweise den heimischen Internetanschluss: dass die Musikszene es richtig krachen lassen wird, wenn sie endlich wieder darf. Dass dann vor allem klaustrophobische Oratorien und Sinfonien über den Lockdown komponiert werden, glauben jedenfalls weder Jörg Widmann noch Thorsten Schmidt. Eher das Gegenteil: dass es im besten Fall vielleicht zu so etwas wie neuen "Roaring Twenties", zu einer Wiederauflage der Goldenen Zwanziger kommen könnte, weil man all das erst mal vergessen wollen wird. Schönheit also nicht im Außerordentlichen, aber immerhin aus dem Außerordentlichen?

Der SZ-Kultursalon ist weiter abrufbar auf www.sz.de oder www.heidelberger-fruehling.de

© SZ vom 03.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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