Im Rahmen der Coaches' Challenge haben die Dr.-Ludwig-Koch-Stiftung und die Süddeutsche Zeitung besonders engagierte Übungsleiter gesucht, die nun ein Jahr lang finanziell von der Münchner Stiftung gefördert werden. Die zwölf von der Jury ausgewählten Preisträger werden aktuell in der SZ vorgestellt. Hier Teil drei über Mahmoud Nasser.
Im Herbst 2015 war Mahmoud Nasser das Leben in Damaskus unerträglich geworden. Beinahe täglich schlugen Raketen in der Straße ein, in der er mit seiner Familie lebte. Alltägliches, wie der Weg zur Arbeit, war zur lebensbedrohlichen Gefahr geworden. "Einmal hat ein Scharfschütze auf meinen Kopf gezielt. Ich habe das Geräusch gehört und die Kugel über meinem Kopf gefühlt", erzählt Nasser. Als der sogenannte Islamische Staat noch etwa drei Kilometer von Damaskus entfernt war, habe er entschieden, die Gefahren der Flucht auf sich zu nehmen, allein, aber in der Hoffnung, seine Familie nachholen zu können.
Etwa einen Monat war er auf der Flucht. An der türkischen Westküste stieg er auf ein völlig überfülltes Schlauchboot, das ihn nach Griechenland bringen sollte. Auf offener See war plötzlich kein Fortkommen mehr, der Motor des Bootes war kaputtgegangen. Zwei Ruder habe es gegeben, berichtet Nasser, doch allein mit diesen die Besatzung von 45 Menschen zu bewegen, sei ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Als der Wellengang bedrohlicher wurde, habe er gedacht, "wir kommen nicht mehr lebend an". Die Rettung kam, als Seenotretter ihn und die anderen an Bord nahmen und auf die Insel Samos brachten. Von dort aus gelangte Nasser nach Athen, um anschließend die beschwerliche Balkanroute anzutreten. Es war eine Tortur, die schließlich in München ein Ende fand.
In München wurden die Zeugnisse des Sportlehrers nicht anerkannt - also begann er als Streetworker
Mahmoud Nasser hatte sein gesamtes bisheriges Leben in Damaskus zurückgelassen. Er war Sportlehrer gewesen in seiner Heimat und hatte viele Fußballer verschiedener Altersklassen trainiert. "Sie waren wie meine Familie, ich habe den ganzen Tag mit ihnen die Zeit verbracht." Als Nasser im November 2015 in München ankam, wollte er wieder Kinder unterrichten. In Deutschland aber wurden die Zeugnisse, die er mitgebracht hatte, nicht anerkannt. Also wollte er sein Sportstudium wiederholen, dafür wiederum fehlten die Deutschkenntnisse. Sprachniveau C1 wurde gefordert, das hatte er damals noch nicht. Nasser besuchte einen Sprachkurs und begann, sich bei "Bunt kickt gut" als Streetworker zu engagieren. Der Verein organisiert seit vielen Jahren in München eine interkulturelle Straßenfußballliga.
Ganz zufällig sei er dann im Frühjahr 2018 auf den Verein Bewegung und Spiel (BUS) e.V. aufmerksam geworden, der zu dieser Zeit einen Übungsleiter suchte. BUS wurde von dem Gymnastiklehrer Giorgio Zankl gegründet, mit dem Ziel, dass Kinder möglichst vielfältige Bewegungen kennenlernen. Nasser bietet bei BUS deshalb kein Fußballtraining an. Stattdessen turnt er mit den Kindern und macht ihnen vor, wie man Bälle mit Händen und Füßen bewegt. Die Eltern und der Vorstand des Vereins waren von seiner Arbeit schnell angetan.
Bei BUS betreut Nasser jedoch nicht nur Kinder. Vor Corona kam regelmäßig rund ein Dutzend junger Männer, eine Multikulti-Gruppe, in der Halle zusammen, um gemeinsam zu kicken. Das Projekt lief vor zwei Jahren an und war seine Idee. Deutsche ohne Migrationsgeschichte und Geflüchtete lernen einander beim Fußball kennen, was letzteren dabei helfen solle, sich zu integrieren.
"Ich bin vielleicht der einzige Flüchtling hier in München, der nach vier Jahren in Deutschland im Vorstand eines Vereins ist."
Inzwischen stellt Nasser bei BUS auch seine Führungsqualitäten unter Beweis. Im März 2019, nach nur einem Jahr im Verein, wurde der 36-Jährige zum Vorsitzenden gewählt. Der bisherige Vorsitzende Giorgio Zankl hatte ihn dazu ermutigt, sich zur Wahl zu stellen. "Ich habe ihm auch gesagt, ,ich bleibe im Hintergrund dabei und du kannst auf meine Hilfe zählen'", sagt Zankl. Und Nasser hat den Laden im Griff. Man könne sich auf ihn zu hundert Prozent verlassen, meint sein Vorstandskollege Ralf Beckert. Zudem strahle er jederzeit eine angenehme Besonnenheit aus. "Ich habe nicht einmal erlebt, dass Mahmoud fahrig oder laut wird, weil er im Stress ist", sagt Beckert. Nasser wiederum erfüllt die Vorstandsaufgabe mit Stolz. "Ich bin vielleicht der einzige Flüchtling hier in München, der nach vier Jahren in Deutschland im Vorstand eines Vereins ist."
Jetzt noch ein Sportstudium aufzunehmen, ist für Nasser dagegen schwer vorstellbar. "Die Mitglieder des Vereins verlassen sich auf mich, und ich habe ein Projekt mit den Kindern angefangen und will das auch weiterführen." Seitdem er bei BUS aktiv ist, hätten sich ungefähr 70 Kinder angemeldet. Und Nasser ist sich sicher, es werden weitere hinzukommen, sobald die Corona-Beschränkungen gelockert werden. Zahlreiche stünden bereits auf der Warteliste.
Es gab eine Zeit, da wollte Mahmoud Nasser München am liebsten verlassen. Das war am Anfang, als seine Frau und die beiden Kinder noch in Damaskus waren. Erst im Sommer 2017, nachdem Nasser Asyl gewährt worden war, durfte seine Familie nachziehen. Inzwischen hat er eine Niederlassungserlaubnis. Er fühlt sich wohl in München, und möchte bleiben, zusammen mit seiner Frau, der Tochter, seinem Sohn.
Bei BUS hat Nasser eine Gemeinschaft gefunden, die er nicht missen möchte. "Würde ich von hier umziehen, fühlt es sich so an, als ob ich meine zweite Familie verliere." Seine Mutter und seine Geschwister hat Nasser seit der Flucht nicht mehr gesehen.