Stream-Kritik:Rhythmisch wild

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Die Pianistin Brigitte Helbig spielt Stücke von Hans Winterberg

Von Rita Argauer, München

Es gibt zwei Möglichkeiten, Musik auf den Zuhörer zu richten: entweder durch Melodik oder durch Rhythmik. Beides löst Reaktionen aus. Die eine kann man Schwelgen nennen, die andere Tanzen. In Hans Winterbergs Musik ist die Tonalität zwar höchst chromatisch, aber nie wirklich atonal und somit der zugänglichere Part. Rhythmisch aber setzt der Komponist auf Kompliziertes. Auf Takte und Noten, die sich gegenseitig ausschließen und einander entgegenlaufen; die vom Spieler verlangen, sich in zwei oder mehr rhythmische Seelen aufzuspalten.

Der böhmisch-deutsche Komponist (1901-1991), der als Jude unter den Nazis verfolgt wurde, Theresienstadt überlebte und sich später in Oberbayern niederließ, ist heute kaum bekannt. Er hat ein erstaunlich großes Œuvre hinterlassen. Darunter eine drastische Theresienstadt-Suite von 1945 und ein paar harsche Intermezzi in den Zwanzigerjahren. Dazu romantisch-nostalgische Miniaturen und eine Sonate. Diese Stücke spielt die Münchner Pianistin Brigitte Helbig im Klavier-Salon, dieser vom Schwabinger Tonstudio Polyester initiierten Musikreihe, die schon vor Corona Konzerte aus dem Studio ins Internet übertrug und das jetzt immer noch tut. Es ist ein ziemlich unspektakulärer Rahmen für eine Uraufführung. Denn die Sonate Nr. 1 von 1936 tauchte erst in den vergangenen Jahren durch eine Familien-Recherche von Winterbergs Enkel wieder auf.

Umso spektakulärer spielt Helbig das. Denn die junge Pianistin, die die Interpretation Neuer Musik in München bei Markus Bellheim studierte, setzt in ihrer Interpretation massiv auf den avantgardistischen Part in Winterbergs Musik: die Rhythmik. Spitz, verschoben, überraschend. Die Sonate ist ein rhythmisch wild oszillierendes Stück, immer wieder durchsetzt von massiven oktavierten Bässen. Die chromatischen Tonfolgen dienen mehr als Material für die Rhythmik, was eigentlich ein sehr zeitgenössischer, fast popmusikalischer Ansatz ist. Wäre die Rhythmik bei Winterberg nicht so verflucht kompliziert.

Helbig aber kann das. Die Pianistin, die fast etwas unsicher wirkt, wenn sie zwischen den Stücken zum Internet-Publikum spricht, hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen in der Münchner Szene für Neue Musik gemacht. 2019 bekam sie das städtische Musikstipendium für eine von ihr konzipierte Konzertreihe, deren Auftakt im März ausfallen musste. Wenn sie spielt, spielt sie ernst, aber treffend. Mit Wucht, was der Interpretation Neuer Musik oft erstaunlich gut tut. Gerne säße man da live dabei. Doch meckern bringt nichts. Es überwiegt die Freude. Wie schön, mal wieder an einem außerordentlichen musikalischen Ereignis teilzunehmen, das unter www.klavier.salon auch noch einmal nachzuhören ist.

© SZ vom 22.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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