Tutzing:Ein Chor, ein Wort

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Die Augsburger Domsingknaben in Bad Tölz bei einem Knabenchorfestival. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Augsburger Domsingknaben in der Stadtpfarrkirche Tutzing

Von Berthold Schindler, Tutzing

Es ist erst einige Tage her, dass einer der größten Dirigenten der Gegenwart seinen Abschied von der Bühne verkündete: Der Österreicher Nikolaus Harnoncourt, Pionier der historischen Aufführungspraxis und Begründer des weltberühmten Originalklangorchesters Concentus Musicus Wien, gab einen Tag vor seinem 86. Geburtstag bekannt, dass seine körperlichen Kräfte eine Fortsetzung seiner Karriere nicht mehr zulassen würden.

Das Hauptanliegen der historischen Aufführungspraxis ist es, das Klangideal der Periode wieder herzustellen, in der ein Stück entstanden ist: Dazu bedarf es einerseits der Rekonstruktion der alten Instrumente, doch auch die Rückbesinnung auf die musikalische Rhetorik zu Zeiten von Bach, Beethoven und Brahms gehört dazu. Ein bedeutender Teilaspekt daraus ist für den Bereich der Chormusik die Refokussierung auf das geschriebene Wort. Der Belcanto betonte immer mehr die Sangeskunst und die technische Beherrschung der menschlichen Stimme. Doch die Puristen um Harnoncourt verteidigen die Wichtigkeit der Sprache, gerade in der geistlichen Musik.

Auch Domkapellmeister Reinhard Kammler, der die Augsburger Domsingknaben vor knapp 40 Jahren gründete, hat sich der musica sacra und ihrer Maxime verschrieben, dem Wort Gottes in gesungener Form den Vorrang vor den vermeintlichen Manierismen der romantischen Musiziertradition einzuräumen. Beim Adventskonzert des Knabenchors in der Tutzinger Pfarrkirche St. Joseph wurden Vorzüge und Mängel dieser radikalästhetischen Entscheidung gleichermaßen deutlich.

Textverständlichkeit ist kein Problem. Auch auf den hinteren Plätzen dringen die Liedtexte von Sätzen bekannter Weisen wie Otto Jochums "Macht hoch die Tür" oder dem von Kurt Riedel gesetzten "Kommet ihr Hirten" einwandfrei durch. Selbst in einer polyphon verdichteten Motette wie William Byrds "Rorate coeli desuper" für Tutti- und Favoritchor zu insgesamt fünf Stimmen kann man die Worte klar nachvollziehen, was grundsätzlich ein anstrebenswertes Ziel ist. Allerdings wird dieser Erfolg teuer erkauft: Gerade in Stücken wie dem erwähnten Byrd ist es wichtig, die prachtvollen Linien der Einzelstimmen frei fließen zu lassen, ihnen eine Entwicklung im Legato zuzugestehen und auch wieder abschwellen zu lassen, um einer anderen Stimme Platz zu machen - Polyphonie funktioniert so am besten, weswegen sich diese Interpretation auch gemeinhin bewährt hat; man kann sagen, dass für die Renaissance dieser Weg sogar der historischen Aufführungspraxisnorm entspricht. Andernfalls werden die Phrasen zu kleinteilig, geradezu abgehackt und konterkarieren die Komponistenabsicht, eine klangliche Gesamtarchitektur zu schaffen. Abgesehen davon beeinträchtigen starke Verkürzungen wie in der Silbe "Stall" oder die Abphrasierung zwischen zwei zusammengehörigen Teilen eines Syntagmas wie in "göttlich Erbarmen" sogar die eigentlich erwünschte Sinnhaftigkeit der Sprache.

Sieht man aber von diesen Geschmacksfragen ab, gibt es fast nur Gutes über den Chor und sein Konzert zu berichten. Da wäre zum einen das für das junge Alter der Knaben und Männer beachtliche stimmliche Niveau. Bei den Solisten und Soloensembles wurde individuelles Talent hörbar, die Stimmen klangen klar und weich geführt; das Tutti bestach mit perfekter Balance zwischen den Stimmgruppen und einem voice blending, also einem gemischten Ensembleklang, den man auch als professioneller Kammerchor nicht besser hinbekommen kann. Dazu agierten die Sänger sehr flexibel auf die dynamischen und tempobezogenen Vorgaben ihres Leiters Kammler. Das Publikum reagierte begeistert auf die Darbietung des so homogenen und intonationssicheren Ensembles. Erst nach den Zugaben ("Minuit, Chrétiens" von Adolphe Adam in der englischen Version "O Holy Night" sowie Bachs "In Dulci Jubilo") durften die Domsingknaben unter herzlichem Applaus die Heimreise antreten.

© SZ vom 15.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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