Theater in Gauting:Alter Stoff neu interpretiert

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Großartig als "Lulu": Luisa Wöllisch in der Inszenierung der Freien Bühne München ist in einer Zwischenwelt und wird umringt von ihren Ehemännern und Liebhabern. (Foto: Georgine Treybal)

Die Freie Bühne München bringt Frank Wedekinds Stück "Lulu" im Bosco auf die Bühne. Die aus Tutzing stammende Protagonistin Luisa Wöllisch spielt die Hauptfigur betont selbstbewusst

Von Blanche Mamer, Gauting

Auch wenn man Luisa Wöllisch in dem Film "Die Goldfische" gesehen hat, in dem sie die Franzi spielt, ein Mädchen mit Down-Syndrom, konnte man sie sich nur schwer als "Lulu" vorstellen. Egal ob man in Frank Wedekinds Frauengestalt nun den frühreifen, von Sex besessenen Vamp sehen wollte oder die tragische Projektionsfläche für Männerwünsche, mit Luisa Wöllisch konnte man sie nur schwer verbinden. Doch die Inszenierung der Freien Bühne München, die am Samstag im Bosco in Gauting aufgeführt wurde, lehrte die Zuschauer eines Besseren.

Schon nach wenigen Minuten hatte Luisa, die mit Trisomie 21 geboren wurde und aus Tutzing stammt, sie voll gepackt. Sie sprühte vor Charme und wirkte in ihrem rückenfreien Kleid so Babyspeck-sexy, dass ihre Behinderung nicht mehr wahrgenommen wurde. Inklusion sei kein Projekt, kein Vorgang, man müsse sie leben, sagte der Behindertenbeauftragte im Landratsamt Starnberg, Maximilian Mayer, in seiner Begrüßung und ermutigte das Publikum, dazu bei zu tragen, die Stigmatisierung von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu beenden. Das war ganz im Sinn der etwa 80 Zuschauer, von denen viele nach der anstrengenden Vorstellung auch noch zum Publikumsgespräch blieben.

Zunächst ist es nicht leicht, in die Story einzutauchen. Denn das Stück unter der Regie von Jan Meyer, wird aus der Rückschau erzählt. Es beginnt praktisch am Schluss, alle Beteiligten sind auf der Bühne versammelt, sie sind tot und in einem Zwischenreich eingeschlossen. Sie hatten alle eine Beziehung mit Lulu und lassen sich ausführlich über das Objekt ihrer Begierde aus. Jeder der Männer erzählt seine Version der Geschichte und schaut auf seine Zeit mit Lulu zurück. Fast alle Schauspieler haben eine Behinderung, sprechen gut oder auch weniger flüssig über ihre Ansichten oder sogar über ihre Schuld. Damit der Text verstanden wird, läuft er wie auf einem Teleprompter mit.

Lulu hat jedoch nicht nur Männer bezirzt, auch eine Frau, die lesbische Malerin, Gräfin Geschwitz, gespielt von Noemi Fulli, ist ihr verfallen. Ob sie die Einzige ist, die Lulu wirklich liebt, wie einige Zuschauer später vermuten, wird nicht klar. Lulu, die von Jack the Ripper ermordet wurde, und die Gräfin gelangen ebenfalls in das Zwischenreich und beginnen dort, sich auf die eigene Verantwortung und Schuld zu besinnen. Wobei Luisa Wöllisch ein ganz eigenes Verständnis für Lulu mitbringt. Sie sieht sie nicht als unterdrückte, sondern als selbstbewusste Frau mit einem großen Drang nach Freiheit, die das aufregende Leben sucht. Sie sieht sie auch als Rebellin gegen die Sichtweisen der Männer ganz im Sinne der jetzigen "Me too"-Debatte. Es gilt also, den mehr als hundert Jahre alten Text von Wedekind neu zu interpretieren und sich von der überarbeiteten Version der Lulu fesseln zu lassen.

Lulus Entdecker und erster Liebhaber, Doktor Schön, gespielt von Burchard Dabinnus (ehemals Residenztheater), hat die 12-jährige Lulu von der Straße gerettet, mit ihr geschlafen. Er ist ein mächtiger Zeitungsverleger und will, dass sie sich erschießt, als er von ihrer Affäre mit seinem Sohn Alwa (Ernst Strich) erfährt. Doch Lulu erschießt Schön und muss dafür ins Gefängnis, womit ihr Unglück seinen Lauf nimmt. Sie hat etliche Liebhaber neben ihren drei Ehemännern und muss schließlich total verarmt ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdienen. Diese Entwicklung ist erst schwer nachzuvollziehen, wird aber im spätere Kontext klar.

Das Stück der Freien Bühne München ist bei weitem nicht so schwermütig wie Wedekinds moralisches Drama vermuten ließe. Die Produktion ist durchsetzt mit komödiantischen Elementen und skurrilen Gags. Mit einer beachtlichen Portion Witz beeindrucken Dennis Fell-Hernandez als Obermedizinalrat Goll, Piani und Hugenberg, und Fabian Moraw als Schigolch. Das ganze Ensemble fasziniert durch seine große Spiellust. Luisa Wöllisch, die erste, die die dreijährige Ausbildung an der Freien Bühne absolviert hat, ist so fit, dass sie ihren Kollegen, die ins Stottern kommen, sogar den Text zuflüstern kann.

Nach ihrer Lulu ist jedenfalls klar, dass sie die Richtige ist für den Kulturpreis "Grüner Wanninger" der Grünen-Bezirkstagsfraktion, den sie an diesem Sonntag in der Starnberger Schlossberghalle bekommen hat.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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