Starnberg:Das Ende der Fixierungen

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Der Landkreis Starnberg schließt sich Modellversuch an, demente Menschen möglichst nicht mehr mit Gurten ans Bett zu fesseln.

Christiane Bracht

Deutschlandweit sind bis zu 400 000 Menschen an Betten oder Stühlen fixiert. Es geht auch anders, sagen die Initiatoren des Werdenfelser Weges. Foto: dpa (Foto: dpa)

Mit Gurten und Riemen ans Bett gefesselt zu sein, nicht nur eine Stunde oder zwei, sondern jahrelang - das ist eine Horrorvorstellung. Doch viele demente Menschen müssen so ihren Lebensabend fristen. Denn Bettgitter oder Bauchgurte werden nur selten wieder weggenommen, wenn sie erst einmal verwendet wurden. Das jedenfalls ist die Erfahrung von Richter Sebastian Kirsch. Der Herrschinger hat selbst innerhalb von sieben Jahren 800 sogenannte Fixierungen genehmigt. Es war reine Routine, wie er zugibt. Hat jemand das Wort "Sturzgefahr" erwähnt, sei der Antrag der Pfleger praktisch schon durchgewunken gewesen. Doch 2007 hat er zusammen mit Kollegen in Garmisch-Partenkirchen und der dortigen Betreuungsbehörde den sogenannten Werdenfelser Weg entwickelt. Seither gibt es zumindest in seinem Gerichtsbezirk erheblich weniger Anträge und kaum noch Genehmigungen für Gitter oder Gurte. Es wird nun viel intensiver nach Alternativen gesucht. Auch der Landkreis Starnberg will nun den Werdenfelser Weg beschreiten.

Fast schon entschuldigend erklärte Amtsgerichtsdirektorin Sibylle Fey bei der Auftaktveranstaltung am Freitag, warum das Fünfseenland erst jetzt dem positiven Beispiel der Garmischer folgt. "Personelle Veränderungen" seien Schuld am langen Zögern. 90 Landkreise und Städte haben ihre Praxis bereits verändert, so Kirsch. Viele andere interessieren sich dafür, in manchen wird das Modell auch schon getestet.

Bei Schulungen hatte Kirsch bemerkt, dass die Pfleger wesentlich kreativer nach Alternativen suchen, wenn es um theoretische Fälle ging. In der Praxis plädierten sie schnell für Fixierungen, wenn Richter, Betreuer oder Behörden sie fragten. Grund: Die meisten hatten Angst davor, haften zu müssen, wenn ein Patient stürzt. Als Kirsch hörte, dass jedes Jahr fast 30 Menschen sterben, weil Gurte und Riemen sie stranguliert haben oder sie in Kopftieflagen gerutscht waren, aus denen sie sich selbst nicht befreien konnten, hatte er schlaflose Nächte. Viele andere von den insgesamt 300 Fixierten sterben auch, weil sie den Lebensmut verloren haben oder körperlich und geistig rasant abbauen.

Kirsch und seine Garmischer Richterkollegen setzten alles daran, die Verantwortung, die bisher allein auf den Schultern der Pfleger lastete, auf mehrere Schultern zu verteilen. Statt Rechtsanwälte setzte man Betreuer ein, die Erfahrung in der Pflege haben und juristisch geschult wurden. Nun überlegen und diskutieren die Fachleute, was im Einzelfall die beste Lösung ist. Kirsch genehmigt jetzt jedes Jahr nur noch zwei bis drei Fixierungen. Im Landkreis Garmisch gibt es nun 70 Prozent weniger Anträge.

Ob das auch im Fünfseenland bald so sein wird? Richterin Birgit Habdank und ihr Kollege Franz von Hunoltstein praktizieren schon seit zwei Monaten den Werdenfelser Weg. Änderungen haben sie bisher nicht feststellen können. "Ich bin seit sechs Jahren Betreuungsrichterin und habe noch nie eine langfristige Fixierung für alte Menschen genehmigt", sagt Habdank. Zwei Heime im Landkreis hätten auch noch nie einen Antrag gestellt, sondern statt dessen Niederflurbetten angeschafft. Auch bei Fixierungen in der Psychiatrie oder für Frischoperierte etwa in der Asklepiosklinik sei man sehr zurückhaltend, erklärt sie. Laut Vizelandrätin Brigitte Servatius gibt es in den 14 Altenheimen und fünf Einrichtungen für Menschen mit Behinderten 249 Personen, deren Freiheit eingeschränkt ist. 116 von ihnen haben Gitter am Bett, 21 bekommen einen Bauchgurt auf dem Stuhl angelegt, sechs einen Bauchgurt im Bett.

© SZ vom 13.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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