Literatur:Puzzle des Grauens

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Der Verleger Fritz Wagner hat die Geschichte seiner Familie in dem Roman "Bergheim" festgehalten. Er erzählt von einem Jungen, der am Fuße des Obersalzbergs aufwächst

Von Sabine Bader

Franz wächst in den 1950er-Jahren am Fuße des Obersalzbergs auf. Über das Grauen in Verbindung mit der Ruinenlandschaft auf dem Berg weiß der Bub lange nichts. Niemand spricht mit ihm darüber. Er erfährt zwar, dass sein Vater als Bauleiter und Ingenieur in den 1930er-Jahren maßgeblich am Ausbau der umliegenden Bergstraßen, der Straße auf den Kehlstein und der Autobahn beteiligt war, aber mehr ist dem distanzierten Vater nicht zu entlocken. Doch der Bub spürt, dass etwas mit seiner Umgebung und mit seinem Vater nicht stimmt, dass es viel zu sagen gäbe. Er spielt Fußball auf dem ehemaligen Exerzierplatz der SS, stromert durch die Ruinen von Adolf Hitlers "Berghof" und der anderen zerstörten Nazibauten auf dem Obersalzberg. Und er ist irritiert.

Franz ist der Romanheld, den der Verleger und Autor Fritz Wagner wählt, um eigene Erlebnisse aus Kindheit und Jugendjahren in seinem Roman "Bergheim" zu erzählen. Es ist Wagners Erstlingswerk. Obwohl das gut zweihundertseitige Buch viele autobiografische Züge trägt, hat der Autor ganz bewusst die Romanform gewählt - wohl auch, um beim Erzählen mehr Freiheiten und eine größere Distanz zu haben. Wagner lebt heute mit seiner Familie auf einem Aussiedlerhof zwischen Berg und Münsing am Starnberger See. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt er den "Ambacher Verlag", der seinen Sitz im Münsinger Gewerbegebiet hat.

Auf die Idee, selbst ein Buch zu schreiben, ist er, wie er sagt, eigentlich durch die 2011 erschienenen Familiensaga "Mittelreich" des Ambacher Schauspielers und Autors Josef Bierbichler gekommen, mit dem er befreundet ist. "Da wusste ich, dass ich auch nicht will, dass unsere eigene Familiengeschichte unerzählt bleibt."

Die ersten Jahre im Leben von Wagners Romanhelden Franz sind ungezwungen. Franz ist ein Landkind und vertändelt liebend gern den Tag. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört es, im Sommer vormittags in einer Zinkwanne zu sitzen und zu planschen und nachmittags zuweilen fernzusehen. Da seine Eltern keinen Fernseher haben, geht er dafür zu einem Freund. Dort taucht er ein in die Welt von Bonanza, Lessie und Fury. Als er sechs Jahre alt wird und es ans tägliche Lernen geht, nimmt er es der Schule fast persönlich übel, dass sie ihn vormittags von seinen Zeitvertreiben abhält.

Diese frühen Kinderjahre seines Romanhelden erzählt Wagner leicht, ungezwungen und ganz so, als hätte er sie erst kürzlich erlebt. "Beim Schreiben geht ein Fenster nach dem anderen auf", sagt er darüber. Es sind nur einzelne Wörter und Namen, die Franz in jenen Kindertagen von den Erwachsenen erhascht: Speer, Bormann, Hitler, Tausendjähriges Reich, Juden, die Organisation Todt, Dachau. Was hat dies alles zu bedeuten?

Fritz Wagner gibt seine Aufzeichnungen unter dem Titel "Corona dahoam" in gekürzter Form als Buch heraus. (Foto: Arlet Ulfers)

Was es damit auf sich hat, erfährt Franz erst mit 15 Jahren nach einem Fußballspiel. Ein älterer Mitspieler, Kasper, nimmt ihn in seinem Auto mit nach Hause und erzählt ihm, was damals alles geschah - auf dem Obersalzberg, im ganzen Reich, in der Welt. Die erlauschten Worte ergeben für Franz langsam einen Sinn. Es ist wie ein Puzzlespiel, alles fügt sich ineinander. Als er beginnt zu verstehen, welche Rolle der Vater im Dritten Reich gespielt hat, ist der bereits tot, qualvoll gestorben an Krebs, als Franz 14 Jahre alt ist. Für Wagner steht heute fest: "Mein Vater gehörte einer Generation an, die auf seltsame Art verloren gegangen und in der BRD nie angekommen ist."

Wie sein Romanheld Franz hat auch Wagner drei ältere Geschwister. Er wird 1952 in Berchtesgaden geboren, verbringt seine Kinder- und Jugendjahre in Oberau in der Nähe des Obersalzbergs und zieht als 16-Jähriger mit seiner Mutter nach München. Er besucht zuerst das Gymnasium, danach die Fachoberschule und studiert schließlich Grafikdesign. Nach der Ausbildung arbeitet er in einer Werbeagentur. Aber er macht sich schnell selbständig, gründet zuerst mit einem Kollegen ein englisch-deutschsprachiges Magazin und später, 2011, den Ambacher Verlag. Darin erscheinen regelmäßig die Gemeindeblätter von Münsing und neuerdings auch von Berg sowie Bücher, Chroniken, Veranstaltungsbroschüren und Grafiken. Ehrenamtlich hält Wagner seit Beginn der Pandemie seine Erlebnisse in seinem Corona-Blog fest.

Der Roman "Bergheim" von Fritz Wagner ist von sofort an für 16,90 Euro im Buchhandel sowie in der Münsinger Bäckerei "Krümel & Korn" und über den Webshop des Verlags unter www.ambacher-verlag.de erhältlich.

© SZ vom 25.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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