Kunst:"Ich will malen!"

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Die Künstlerin Ruth Kohler aus Münsing entdeckt mit neunzig Jahren immer noch neue Herausforderungen. Bis zum Hundertsten will sie sich mit der Farbe Grün angefreundet haben

Interview von Stephanie Schwaderer

Geballte Energie bringt Ruth Kohlernicht nur auf die Leinwand. An diesem Donnerstag feiert die renommierte Künstlerin in Münsing ihren neunzigsten Geburtstag. (Foto: Hartmut Pöstges)

SZ: Frau Kohler, wären Sie gerne noch mal 20?

Ruth Kohler: Ne. Aber ich würde gern 150 werden. Die ganzen alten Irrwege muss ich nicht noch einmal gehen. Ich bin jetzt sicherer, weiß mehr - und will neue Irrwege beschreiten. Im Alter macht man ja auch noch ganz schön viel Mist.

Was denn zum Beispiel?

Da ist ein Bild: eigentlich wunderschön. Aber du denkst: Ah, ist noch nicht gut. Du übermalst es. Du verschlimmbesserst es. Die erste Variante war viel stärker. Sie ist verloren. Das ist so ärgerlich! Aber diesen Weg musst du gehen.

Wird das Malen nicht einfacher mit all der Erfahrung?

Überhaupt nicht! Eine Plagerei. Es gibt immer wieder ein anderes Problem. Und das muss so sein. Routine ist der Tod der Kunst. Würde alles auf Anhieb gelingen, wäre es langweilig. Es gibt nichts Schlimmeres als Langeweile.

Wenn Leute sagen: Das könnte ich auch...

Dann sag ich: Wunderbar, mach es. Es gibt Ignoranten, und sie werden Ignoranten bleiben - und sind ja vielleicht auch glücklich in ihrer Welt.

Haben Sie jemals daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen?

Was für eine Frage: Was soll ich mit Ruhe? Spazieren gehen und Däumchen drehen? Ich will malen!

Wie sieht das aus, wenn Sie malen?

Du suchst etwas. Und weißt nicht, genau was. Da ist dieses Harmoniebedürfnis. Du beginnst zu malen, die Farben sind im Einklang. Aber zu viel Harmonie ist langweilig. Also bringst du einen Störeffekt ins Spiel. Der wird zu dominant. Du musst ihn in Schranken weisen. Das kostet Kraft. Das ist ein Ringen.

Sie sprechen über Farben, als hätten sie ein Eigenleben.

Sie haben ein Eigenleben! Der Kampf der Farben untereinander - wunderbar. Was Münter, Marc, Jawlensky und Kandinsky gemacht haben: dass sie den Dingen neue Farben zugeordnet haben, das war der Anfang der Abstraktion. Wir sind vom Gegenständlichen umzingelt. Man muss das Gegenständliche vergewaltigen, entfremden, entmaterialisieren, dann beginnt das Schweben. Heutzutage gibt es in der Kunst keine Tabus mehr zu brechen. Man kann nur noch die eigenen Tabus brechen.

Was wäre für Sie so ein Tabu?

Die Kombination von Türkis und Rosa. Daran arbeite ich gerade. Ich versuche herauszufinden, wie sie zusammengehen können, und für jede Farbe eine Form zu finden. Macht wahnsinnig Spaß.

Erinnern Sie sich, welche Lieblingsfarbe Sie als kleines Mädchen hatten?

Wahrscheinlich Gelb. Das sage ich jetzt nur, weil Gelb so fröhlich ist und ich es gerade gerne mag. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich an überhaupt keine Lieblingsfarbe. Ich war ein ganz normales Kind. Meine Eltern haben mich vor allem musikalisch erzogen, aber das hat bei mir nicht funktioniert. Meine Brüder hatten das absolute Gehör. Ich musste Geige lernen - und im Schweinestall üben, weil ich nie den richtigen Ton getroffen habe. Das war sehr schlimm, vor allem für meine Mutter. Sie wollte, dass ich Musikerin werde.

Ein Gemälde von Ruth Kohler. (Foto: Hartmut Pöstges)

Stattdessen sind Sie als eine der ersten Frauen nach dem Krieg auf die Kunstakademie nach München gegangen. Offenbar hatten Sie sehr liberale Eltern?

Liberal? Ich weiß nicht. Mein Vater hat mich auf der Fahrt nach München begleitet. Wir nahmen einen Bus. Alles lag in Trümmern. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Er hat sich in den Augustiner gesetzt und gesagt: Wenn du bis heute Abend ein Bett hast, kannst du bleiben; wenn nicht, kommst du wieder mit nach Hause. Ich hatte ein Bett, genauer: einen Platz in einem Doppelstockbett in der Mitternachtsmission bei Schwester Annerl. Sie hat nachts die Prostituierten versorgt.

An der Akademie besuchten Sie die Klasse für Monumentalmalerei und wurden Assistentin von Franz Nagel.

Ja, da bin ich auf Gerüsten rumgeturnt - Fresken, Glasfenster, die ersten eigenen Aufträge, das hat Spaß gemacht. Aber dann musste ich nach Afrika, weil dort meine Schwester - sie hat auch ein komisches Leben - einen Job hatte. Die Uni Zürich hat sie damals nach Deutsch-Südwest geschickt. Ich hab einen alten VW gekauft und bin mit dem Schiff nach Swakopmund und von dort nach Windhoek gefahren.

Allein als Frau durch Afrika?

Ja, einige Jahre lang bin ich gependelt. In München habe ich mir mit Aufträgen mein Geld verdient, zum Beispiel habe ich eine Wand im Arabellahaus gestaltet; und in Afrika hab ich gezeichnet und gemalt, auch ausgestellt in Kapstadt und Johannesburg. Aber dann kam ein Anruf von meinem späteren Mann - wir hatten uns in Schwabing im Fasching kennengelernt. Er sagte: Ich mache einen Film in Nepal. Wenn du mitwillst, musst du sofort kommen.

Und Sie wollten mit?

Natürlich! Die Filmerei hat mich begeistert. Ich wollte nicht nur zuschauen, sondern hab' Ton gelernt. Auch viel fotografiert. Werner und ich sind durch die Lande gezogen. Er hat gefilmt, und ich hab meine Ausstellungen gemacht, in London und Paris. Er war viel älter als ich, aber eindeutig der Jüngere von uns beiden: so neugierig und wissbegierig. Er konnte nie zu arbeiten aufhören.

Sie waren sich wohl sehr ähnlich?

Wir haben nie gestritten, aber viel diskutiert. Anfang der Siebzigerjahre sind wir hierher nach Münsing gezogen. Werner hat im ersten Stock geschrieben, ich habe unterm Dach gemalt. Und oft haben wir uns besucht, um über seine Texte zu sprechen, über einzelne Worte, und über meine Bilder. Das war aufregend. Wir hatten eine tolle Ehe. 1982 ist Werner nach einem Dreh in Australien gestorben.

Wie hat sich dieser Verlust in Ihrer Arbeit niedergeschlagen?

Zuvor hatte ich viel mit Lasurtechnik gearbeitet, sehr fein, Schicht für Schicht. Damit war es aus. Ich habe angefangen, mit Farbe um mich zu werfen. Das kam aus der Stille.

Wenn man sich in Ihrem Atelier umsieht, gewinnt man den Eindruck, dass Ihre Bilder immer jünger werden, immer leichter und heiterer.

Das freut mich. Malen ist wie einen Lebensroman zu schreiben. Natürlich male ich keine Erlebnisse. Das wäre ein naiver Ansatz. Andererseits hat jeder das Recht, in einem Bild das zu sehen, was er sehen mag.

Und wenn ich zum Beispiel in diesem Bild einen Stierkopf sehen würde?

Dann wäre da ein Stierkopf.

Vor ein paar Jahren hätten Sie das nicht zugelassen. Sie werden toleranter?

Ja, ich werde toleranter, eine Alterserscheinung. Man könnte auch sagen: Ich werde fauler zu streiten. (Blickt kritisch auf das Bild, dreht es auf den Kopf.) Dieser Stierkopf muss weg!

Wie lange arbeiten Sie gewöhnlich an Ihren Bildern?

Lange. Manche sind erst nach Jahren fertig, manche nie. Ich lebe in meinem Atelier - wenn ich nicht gerade auf Reisen bin oder im Garten. Im Atelier steht meine Kaffeemaschine, hier frühstücke ich manchmal. Am liebsten sitze ich hier in der Dämmerung, denn da passiert etwas mit den Bildern. Sitzen und schauen, das ist ein kreativer Moment. Bevor ich zum Pinsel greife, muss ich es mir im Kopf zurechtgelegt haben. Seit ich nicht mehr rauche, ist das schwieriger geworden. Da hilft dann ein Glaserl Rotwein. Oft sitze ich hier und warte die Dunkelheit ab. Dann werden die Bilder immer schöner, es bleibt nur noch das Essentielle.

Wenn es dunkel ist?

Wenn man sie vollendet im Kopf hat. Und dann geht das Elend an: Dann muss ich die Bilder befreien, zerstören, die Mängel auslöschen. Manchmal stehe ich nachts noch mal auf und komme im Pyjama hier hoch, um eine Stelle zu übermalen. Das ist wie ein Befreiungsschlag. Und am Morgen kann ich mit Wonne ins Atelier gehen: ein Neuanfang!

In Ihren Bildern taucht neuerdings immer öfter Grün auf - eine Farbe, die Sie nie gemocht haben.

Ja, dem Grün nähere ich mich gerade über das Türkis an. Bis ich hundert bin, habe ich mich mit ihm angefreundet.

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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