Krailling:"Wir wurden zum Spielball der Kräfte"

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Fährt Zug nur noch mit dem Rücken zur Fahrtrichtung: Wilhelm Mahler aus Krailling. (Foto: Treybal)

Der 8. Juni 1975 ist für Wilhelm Mahler ein besonderer Tag: Er überlebte mit seinen drei Söhnen das schwere Zugunglück bei Warngau, bei dem 41 Menschen umkamen

Von Wolfgang Prochaska, Krailling

Der 8. Juni 1975 ist für den ehemaligen Kraillinger Gemeinderat Wilhelm Mahler, 81, und für seine drei Söhne der Tag ihrer Wiedergeburt. Mahler saß an diesem Tag mit seinen drei Kindern in jenem Zug, der auf der eingleisigen Strecke bei Warngau frontal mit dem entgegenkommenden zusammenstieß. Als er vom Zugunglück bei Bad Aibling hörte, wurden bei ihm wieder alte, schlimme Erinnerungen wach.

SZ: Herr Mahler, Sie gehören zu den glücklichen Überlebenden des schweren Zugunglücks bei Warngau mit 41 Toten im Jahr 1975.

Wilhelm Mahler: Das kann man so sagen. Ja, wir hatten einfach Glück. Wir saßen anfangs im ersten Waggon gleich hinter der Lok, weil wir zu spät dran waren. Wir kamen von einer Wanderung aufs Brauneck und fast wäre uns der Zug vor der Nase weggefahren. Da bin ich auf den Gleisen dem Zug entgegengegangen, sodass er nicht abfahren konnte. Es hat geklappt.

Der erste Waggon wurde aber über die Lok geschoben und der Boden aufgeschlitzt.

Warten Sie. Jetzt begann unsere Glückssträhne. Denn meine Söhne zeigten sich trotz der langen Wanderung noch sehr lebhaft und gingen den anderen Wanderern, die ihre Ruhe haben wollten, auf die Nerven. Wir suchten uns deshalb ein neues Abteil weiter hinten. Bis wir schließlich in der Mitte eines anderen Waggons gelandet waren.

Wie erlebten Sie den Zusammenstoß?

Wir waren ja Schwarzfahrer. Ich beauftragte meinen ältesten Sohn, der schon 15 war, den Schaffner abzupassen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass wir keine Tickets haben. In dem Augenblick, als der Schaffner kam, krachte es. Wir alle wurden zum Spielball der Kräfte. Mein Ältester knallte mit seinem Kopf gegen die Wand und erlitt ein schweres Hirntrauma, meine beiden Jüngsten, die an der Wand entgegen der Fahrtrichtung saßen, kamen Gott sei dank relativ glimpflich davon.

Und Sie?

Wir alle, die wir drin saßen, haben den lauten Knall nicht gehört. Vielmehr drehte sich der Waggon, ich sah nicht mehr die Landschaft sondern Baumkronen, dann den Himmel und spürte Erschütterungen. Das war, als der Waggon wie eine Ziehharmonika von vorne und von hinten von den anderen Wagen gestaucht wurde. Gleichzeitig wurde der Waggon in der Luft gedreht und schlug mit dem Dach in einer Wiese neben der Strecke auf. Ich schaute nach meinen Kindern, ob sie verletzt sind, und bemerkte erst dann, dass ich eine große Schnittwunde hatte und blutete. Aber ich stand so unter Schock, dass ich nichts spürte. Ich war so aufgedreht, als hätte ich eine Kanne Kaffee getrunken.

Wie erging es den anderen Passagieren, die bei Ihnen im Abteil beziehungsweise im Waggon waren?

Die erstaunlichste Beobachtung - ich sehe das immer noch genau vor mir - war, dass vier Damen wie erstarrt und völlig stumm auf der Decke des Waggons lagen. Es sah aus wie in Pompeji.

Kurze Zwischenfrage: Sie erzählen dieses schreckliche Erlebnis so lebhaft und so genau, als wäre es ein Film.

Das Gute ist, es ist für mich zu einer Anekdote geworden, die zu meinem Leben gehört. Gott sei dank bin ich, glaube ich, kein so sensibler Mensch. Man nimmt es halt, wie es ist. Manchmal denkt man schon, warum die und nicht ich. Die Griechen hatten ihre Götter und man sagte sich, man sei halt ein Liebling der Götter, aber das kann ich nicht akzeptieren, allein schon wenn ich an die 41 Toten denke. Was mich bekümmert, ist, dass mein ältester Sohn, der im besten Mannesalter ist, immer wieder von Schmerzen überfallen wird. Die besten Spezialisten bekommen die Folgen des Unglücks nicht in den Griff.

Wie wurden sie alle nach dem Zusammenstoß gerettet?

Wir haben uns selber gerettet. Wir haben uns durch einen Spalt durchgequetscht und sprangen dann aus zwei Metern Höhe ins Freie. Gut war, dass wir danach die Tür aufbekamen für die anderen Passagiere. Sie müssen denken, damals gab es noch keine Handys. Wir konnten keinen Notruf absetzen. Im Krankenhaus in Bad Aibling wollte man mich nicht mal mit meiner Frau telefonieren lassen, die sich um uns schon sorgte. Erst der Chefarzt hat es mir erlaubt.

Unglaublich! Haben Sie sich danach wieder in einen Zug setzen können?

Ich bin eine Zeitlang nicht mehr hinter der Lok eingestiegen. Und immer mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Das ist das Sicherste. Und wir haben viele Jahre den 8. Juni als unsere Wiedergeburt gefeiert.

© SZ vom 11.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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