Jazzkonzert:Irrer Trip

Lesezeit: 2 min

Abenteuerliche Expedition: Karl Ivar Refseth, Wolfgang Zwiauer, Bastian Stein, Johannes Enders, Gregor Hilbe beim Auftritt in Gauting. (Foto: Arlet Ulfers)

Das Projekt "Enders Room" im Gautinger Bosco

Von Reinhard Palmer, Gauting

Diese Musikrichtung als Elektrojazz zu bezeichnen, wäre wohl zu weit gegriffen. Trotzdem ist der Einfluss der Elektronik in diesem Dauerprojekt des Saxofonisten Johannes Enders bestimmend dafür, was sich in diesem gedachten Raum abspielt: Sie sorgt mit ihrer hypnotischen Wirkung für eine psychedelische Kühle, mit Hall und visionären Weiten.

"Enders Room" ist aber ein offener Raum, ein Freiraum für Möglichkeiten, in dem immer wieder neue Konstellationen ersonnen und ihre Potenziale ausgelotet werden. Und er ist abhängig von den mitwirkenden Musikern, die in der aktuellen Zusammenstellung im Gautinger Bosco schnell einen Draht zum Publikum fanden. Eine CD-Vorstellung war es noch nicht, mit den neuesten Titeln aber ein Vorgeschmack auf die aktuell entstehende Produktion, die zum Jahresbeginn 2020 erscheinen soll.

Auch wenn die Musik bisweilen entrückt wirkte, war ihre Thematik konkret und absolut irdisch. "Hikikomori" war der Abend überschrieben, und so heißt auch ein Song, der wohl der CD den Titel geben wird. Das freiwillige Entsagen der Welt meist zugunsten einer virtuellen Existenz im Cyberspace, wofür das japanische Wort erfunden wurde, ist ein um sich greifendes Phänomen, das symptomatisch für den global zu beobachtenden Realitätsverlust steht.

Der irrsinnige Trip, den die Musiker als eine Odyssee durch alle Stufen des Wahnsinns und des Abdriftens ins Virtuelle charakterisierten, war schon eine abenteuerliche Expedition von entsprechender Länge. Generell sind die Stücke in Enders Room meist ausgedehnt, nehmen sich die nötige Zeit, thematische Szenarien von der Atmosphäre her sorgsam auszuformen.

In "Hikikomori" begann alles mit dem sperrigen Trommeln von Gregor Hilbe, der neben seinem reichhaltigen Schlagwerkset bisweilen auch für die elektronischen Hilfsmittel zuständig war, die allerdings erst im Schlussteil ihre Wirkung entfalten sollten. Das dunkle, bedrohliche Grollen verstärkte E-Bassist Wolfgang Zwiauer. Die schrille Note brachten die sich immer wieder aneinander reibenden Bläser ein. Neben Enders am Tenorsaxofon sorgte Bastian Stein - derzeit offiziell in Elternzeit, daher auf der Bühne rar - an der Trompete fürs nötige Schmetterblech. Wie Stein kommt auch der Norweger Karl Ivar Refseth ursprünglich von der klassischen Musik her. Nach einem klassischen Schlagzeugstudium und Orchesterarbeit spezialisierte er sich aufs Jazz-Vibrafon. Sein klassisches Vorleben nahm er aber mit, vor allem in Form ausgeklügelter Spieltechniken, mit denen er raffinierte Klangeffekte zu erzeugen verstand. Passend dazu hob er mit bogengestrichenen Klangplatten immer wieder in magisch-gläserne Klangsphären ab.

In "Hikikomori" galt es aber zunächst, ein wildes Solo hinzulegen, das wohl die letzte Steigerung vor dem Filmriss darstellte. Was folgte, war ein wirkungsvolles Mittel, das in mehreren Stücken des Ensembles vorkommt und knapp dosiert immer wieder für enorme Wirkung sorgte. Gemeint ist eine dramaturgische Entwicklung von sinnlichen Klangexperimenten, die sich allmählich konkretisieren, bis sich über einzelne Soli eine beherzte Tonsprache entwickeln, die zu ekstatischer Fülle anwächst. So auch in "Hikikomori", hier sogar zweimal hintereinander, wobei der Nachsatz einen geradezu rituellen Charakter erhielt: ein irrer Tanz ums goldene Kalb mit einem handgeklatschten, elektronisch und perkussiv angereicherten Chorus zum Schluss.

In diesem Stück griff das Ensemble so ziemlich alles auf, was vorher in einzelnen Kompositionen schon vereinzelt zur Sprache gekommen war: etwa die groovige Unterlage mit geschärften Oberstimmen in "Old Promis", die Entwicklung klangexperimenteller Sphärik zur kernigen Konkretisierung in "Notre-Dame" oder auch der melodische Gesang der Oberstimmen über einer dichten Unterlage aus Schlagwerk, Bass und monotonen Vibrafon-Figuren in "Reconciliation". Alle diese Konzepte erwiesen sich als überaus ansprechend und unschlagbar darin, das Publikum euphorisch zu stimmen. Zwei ausgedehnte Zugaben.

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: