Erlebnisse einer syrischen Familie:Schüsse peitschen übers Wasser

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Das syrische Ehepaar Hanash berichtet von der Flucht nach Deutschland

Von Astrid Becker, Inning

Der Tag, an dem Ghfran Skita und ihr Mann Anas Hanash beschließen, ihre Heimat zu verlassen, ist ein lauter, grauenvoller Tag. Wenn Ghfran Skita davon erzählt, huschen dunkle Schatten über ihr Gesicht, sie zittert, will sich am liebsten nicht daran erinnern. Doch vergessen kann die 34-jährige Syrerin diesen Tag und alles, was dann folgen sollte, auch nicht.

Bomben zerstören an diesem Tag ihr Haus, die Arbeitsstätte ihre Mannes wird ebenfalls, zeitgleich, wie sie sagt, von Bomben getroffen. Zwei kleine Kinder sieht sie an diesem Tag sterben und denkt dabei an ihre eigenen. Zweieinhalb und eineinhalb Jahre sind die beiden Buben zu diesem Zeitpunkt alt. Die Familie reist noch am selben Tag aus ihrer Stadt in Mittelsyrien direkt in die Türkei. Dort hören sie von einem vermeintlichen Paradies für geflohene Syrer: Libyen. "Wir wollten einfach leben, wieder eine Arbeit finden", erzählt die Frau, die in Syrien Philosophie unterrichtete. Auch ihr Mann sei überzeugt gewesen, dort einen adäquaten Job zu finden. Er hatte in einem Institut für Handel und Wirtschaft der Universität Aleppo gearbeitet - bis dort alles zerstört wurde. Die beiden fliehen, weil sie um ihr Leben, um das ihrer Kinder fürchten - durch Waffengewalt und auch wegen der völlig zusammengebrochenen Infrastruktur eines einst prosperierenden Landes. "Ich konnte ja nicht einmal mehr Milch oder Babynahrung für meine Kinder kaufen." In Libyen, so schien es, sollte alles besser werden. Doch dort erlebt das Paar einen echten Schock: "Da war nur Terror, Gewalt und Chaos", sagt sie. Sie schlafen in einem Haus auf dem Boden, zusammen mit vielen anderen Syrern, die mit ihnen dorthin gekommen sind. Von den Wänden bröckelt der Putz, auf den Straßen toben verschiedene bewaffnete Gruppen. Raubüberfälle mit anschließenden Morden sind offenbar an der Tagesordnung. Kein Land jedenfalls, in dem man sich sicher fühlen kann. Während ihre Freunde, die wie sie aus Syrien gekommen waren, beschließen, nach Schweden zu fliehen ("wegen der Staatsbürgerschaft", wie Skita sagt), entscheiden sich die Hanashs für Deutschland: "Wir wollen wieder arbeiten, wir wollen ein ganz normales Leben führen." Das ihnen das gelingen kann, erscheint den beiden hier realistischer als in Skandinavien. Eines Tages werden sie in Libyen von "Menschenhändlern entführt", wie sie erzählen. "Du musst die Schleuser nicht suchen, sie finden Dich, fordern Geld, bedrohen und belügen Dich." Eines Tages geht es trotzdem los über das Meer. Ihr Mann und ein Sohn auf einem Schlauchboot, sie selbst auf einem anderen mit dem zweiten Kind, so erzählt die Syrerin, die an einer Angstphobie vor Wasser leidet. Schon immer. Doch das Wasser, das große Meer ist nicht das Problem. Die Miliz feuert auf ihr Boot, es droht zu sinken. Immer wieder kehrt ihr Schiff an den libyschen Strand zurück. Ob ihr Mann und ihr anderes Kind die Schüsse überlebt haben, weiß sie viele Tage lang nicht. Irgendwann erreicht sie Italien, kommt vom Süden in den Norden, trifft am Bahnhof in Mailand wieder auf ihre Familie. Ihr kleiner Sohn Alhmza sagt noch heute "Bumm Bumm", wenn er die Wörter "Schiff" oder "Boot" aufschnappt. "Ich habe Angst, dass er sich ein Leben lang daran erinnern wird", sagt sie.

In Deutschland mit dem Zug angekommen, landet die Familie erst in München, dann in Waldkraiburg, anschließend in Weßling und kommt von dort direkt zu Bretscher. Als sie das Häuschen und den kleinen Garten erblickt, ist Ghfran Skita zum ersten Mal wieder glücklich. Nach vielen Jahren. Weil sie sich dort sicher fühlt. Weil es hier Menschen gibt wie Erwin Bretscher und die Hoffnung auf ein ganz normales Leben.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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