Inning:"In den Leuten steckt Potenzial"

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Politologin Jenny Schuckardt hat ein außergewöhnliches Buch über Flüchtlinge veröffentlicht. Nach einem Jahr bewegender Recherche berichtet sie über Schicksale und traumatische Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen, die nur eines wollen: Weiterleben nach dem Überleben

Interview von Sophie Laskus, Inning

Sie hat bereits einige Kinderbücher über Zaubermädchen und Magie geschrieben. Nun kehrt Politologin Jenny Schuckardt mit ihrem neuen Buch wieder auf den Boden der Realität zurück: "Beyond Survival" heißt die Geschichtensammlung, die von Erlebnissen geflüchteter Kinder und Jugendliche erzählt.

SZ: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch über Flüchtlingskinder zu schreiben?

Jenny Schuckardt: Es war der Sommer 2015, als so viele Menschen nach Europa flohen. Ich wollte nach Griechenland fahren, um zu helfen. Dort hab ich dann gesehen, wie die Menschen ankamen und hausten. Das war schrecklich. Mich interessierte ihre Geschichte, besonders die der Kinder. Man hört ja immer, die fliehen mit dem Boot. Aber die Details, die Kleinigkeiten, zehn Tage oder länger nicht duschen oder mit Kakerlaken schlafen zu müssen, die nicht. Man kann sich so eine Flucht gar nicht vorstellen. Außerdem wollte ich wissen, wie ihr Leben vorher war, was für Menschen sie sind und wie ihr Weg weitergeht. Daraufhin habe ich ein Jahr lang mit den verschiedensten Kindern gesprochen.

Wie haben Sie es geschafft, dass sich die Kinder Ihnen gegenüber so öffneten, und wie sind Sie damit umgegangen?

Ich kann mich noch sehr gut an Malaika, ein junges Mädchen aus Somalia, erinnern. Sie war die Erste, die mir ihre Geschichte anvertraut hat. Wir saßen in einem völlig überfülltem Fastfood-Restaurant. Ich hatte Tränen in den Augen, als sie von ihrer schrecklichen Flucht und ihrer Freundin, die verbrannte, erzählt hat. Ich habe generell sehr viel geweint, wenn die Kinder mir ihre Erlebnisse schilderten. Aber ich glaube, sie waren froh. Ich habe nach ihren Freunden, nach ihrer Lieblingsfarbe oder ihren Träumen gefragt. Sie konnten berichten, was sie bewegt und nicht nur auf Fragen antworten, welche Krankheiten sie haben, woher sie kommen und wohin sie wollen. Ich habe einfach andere Fragen gestellt, durch die sie das Gefühl hatten, wichtig zu sein. Vielleicht haben sie auch gespürt, dass es mir eine Herzenssache war, etwas über sie zu erfahren. Es ging eine so große Herzlichkeit von den Kindern aus. Ich bin sehr dankbar dafür.

Jenny Schuckardt unterstützt mit ihrem Buch "Beyond Survival" die gleichnamige Organisation, die von Kilian Kleinschmidt (li.) ins Leben gerufen wurde. (Foto: oh)

Wie sehen Sie die Chancen der Kinder in Deutschland? Wie können sie hier ihr Leben weiterleben?

Ein Syrer hat auf der Flucht sein Bein verloren. Es schloss sich der Organisation "Refugee Openware" an und lernte, wie man einen 3D-Drucker bedient. Heute stellt er damit Prothesen für Menschen her, die im Krieg Körperteile verloren haben. In den Leuten steckt Potenzial. Sie sind jung, sie haben ihre Flucht meist selbst geplant und mussten bei Schwierigkeiten improvisieren, um zu überleben. Einige von ihnen können so schnell die deutsche Sprache lernen. Mit einem 15-jährigen Jungen, der erst seit einem halben Jahr hier war, konnte ich mich bereits auf Deutsch unterhalten. Man muss ihnen nur mit einer anderen Stimmung entgegenkommen, ihnen sofort eine Aufgabe geben, auch wenn es nur Rasenmähen oder Schneeschippen ist. Die Leute sind froh, dass sie überlebt haben, aber sie wollen auch weiterleben. Ihr Leben endet nicht nachdem sie angekommen sind: Es beginnt erst wieder.

Wie kann man Kinder besser integrieren?

Man muss sie möglichst schnell normal behandeln, sie mit anderen Kinder zusammenbringen. Kinder verhalten sich untereinander unkompliziert, sie brauchen keine Kommunikationsanweisung, um miteinander klarzukommen. Vor allem die Jüngeren sind neugierig aufeinander. Außerdem sind Pflegefamilien nicht unbedingt das beste, was man den alleinreisenden Minderjährigen bieten kann, auch wenn diese gute Absichten hegen. Meist fühlen sich Kinder unter Gleichgesinnten mit ähnlichen Erfahrungen wohl. Vor allem in Angstsituationen können die Pflegefamilien nicht nachvollziehen, was in den Kindern vor sich geht, anders als Freunde, die auch fliehen mussten. Die sind dann meistens die bevorzugten Ansprechpartner und können Trost spenden.

In Ihrem Nachwort betonen Sie, dass Sie dran bleiben. Haben Sie noch Kontakt zu den Flüchtlingen?

Oh ja. Ich helfe einigen beim Ausfüllen von Dokumenten und erkundige mich nach ihnen. Zur Zeit bin ich auf der Suche nach einer Puppe, die sich Atefa, ein kleines Mädchen aus Syrien wünscht, da sie ihre auf der Flucht zurücklassen musste. Ich will ihr damit eine Freude machen.

Welches Ziel verfolgen Sie?

Ich will die Herzen der Menschen erreichen. Emotionen hervorrufen. Ich finde es entsetzlich, wie wenig Verständnis und Toleranz einige Bürger gegenüber Flüchtlingen aufweisen. Aussagen wie "Die haben ja alle Handys" und "Die laufen ja in neuen Klamotten rum" hört man leider oft. Die Leute müssen jedoch verstehen, dass ein Handy zur Orientierung auf der Flucht lebenswichtig ist. Ein Handy ist der einzige Weg die Familie zu kontaktieren und sich zu erkundigen, ob noch alle am Leben sind. Zudem spenden Bekleidungsunternehmen fehlerhafte Produkte an Notaufnahmestellen. Ich will zeigen, dass Individuen, verschiedene Gesichter und Geschichten hinter der anonymen Flüchtlingswelle stehen. Das müssen die Menschen begreifen. Sie müssen Herz zeigen.

© SZ vom 24.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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