Mekka der Lyrik, Eldorado der Reime, Hauptdorf der Poesie - es sind Superlative wie diese, die in Literatenkreisen in einem Atemzug mit Hochstadt, dem 800-Seelen-Dorf und Ortsteil von Weßling, genannt werden. Anton G. Leitner, der Initiator des internationalen Wettstreits der Poeten, spricht lieber von einer Stierarena oder einem Stierkampf.
Das trifft den Kern des früheren "Hochstadter Stiers", der jetzt "Lyrikstier" heißt, nicht wirklich. Die Autoren, die zuvor im Seminar intensiv mit den Mentoren Leitner, der Gautinger Schriftstellerin Sabine Zaplin und dem Darmstädter Poeten Alex Dreppec an ihren Gedichten zum Thema "Verse für den Gaumenkitzel - Gedichte vom Essen und Trinken" gefeilt hatten, sahen sich keineswegs als Konkurrenten. Die Zusammenarbeit der 25 Hobbypoeten sei von einer "irren Solidarität", "einem schönen Wohlwollen" geprägt gewesen, schwärmte Babette Werth. Die Berlinerin durfte beim 8. Wettbewerb die für den Jurypreis gefertigte Stierskulptur mit nach Hause nehmen. Die Jury setzte sich dabei aus Erich Jooß, dem Präsidenten der Münchner Turmschreiber, Melanie Arzenheimer, Redakteurin und Gewinnerin des ersten Hochstadter Stiers, sowie dem Verskabarettisten Georg "Grög" Eggers zusammen. Die 60-jährige Werth hat den Preis zum ersten Mal gewonnen. Der Jury gefielen besonders die unverbrauchten Metaphern, mit denen sie ein Muschelessen beschrieb: "Feine Wellen, die langsam im tiefen Teller abebben, künstliche Gezeiten. Moosmuscheln, blauschwarze Doppelschalen nur mit einem Band verbunden. Rettungsseile: transparent, fragil. Im Inneren das Weichtier, geborgen auf perlmuttfarbenem Grund. . ."
Das Publikum urteilte traditionsgemäß weniger nach fachlichen Kriterien. Hier standen der Vortrag und die Emotionalität im Vordergrund. Mit Stimmzetteln häufelten die Zuhörer Babette Dieterich aus Stuttgart auf den ersten Platz. Dieterichs sinnliche Zeilen, mit denen sie Gemüsearten zum Leben erweckte, waren die pure Wortakrobatik: ". . . Mach mich heiß, lechzt der Spargel. Stopf mich, stöhnt das Cordon bleu. Schieb mich dazwischen, seufzt der Schinken. Mach mich an, sagt der Salat".
In diesem Jahr durften erstmals die 25 Teilnehmer im Alter zwischen 23 und 84 Jahren einen Sieger aus ihren Reihen kürten. Leander Beil aus München, der beim Jurypreis auf Platz 2 gekommen war, gewann den Teilnehmerpreis mit seinem Gedicht "Chuck Norris weiß, wo in Schnapsflaschen Birnen an den Bäumen wachsen". Ungewöhnliche Bilder, ein überraschender Schluss und eine starkes Sprachgefühl attestierten die Kollegen dem jungen Mann ("Noch sind wir nicht da. Also warten wir an diesem alten Bahnhof, sprachlos verloren, wo der Rost mehr über Zeit sagt als die blinden Uhren"). Aus dem Landkreis Starnberg stammte einzig Leni Gwinner. Das Publikum wählte die Herrschingerin für ihr erotisch-humorvolles Tête-à-Tête zweier Lebkuchen auf den zweiten Platz.
Was Jazz in der Musik ist, das sind Gedichte in der Literatur: Stiefkinder, die normalerweise nur ein eingefleischtes Publikum vom Hocker reißen. Das ungewöhnlich große Interesse bei Publikum und Medien für den Lyrikstier überraschte Anton G. Leitner: "Sogar die Bundes-dpa", also die deutsche Presseagentur, "hat Hochstadt entdeckt. Vermutlich das erste Mal in der Dorfgeschichte Hochstadts, und dass dies ausgerechnet mit Lyrik passiert ist, finde ich schon kurios", hatte Leitner im Vorfeld gemeldet. Die zirka 100 Karten für das Literaturfest im Gasthaus Schuster waren seit Wochen ausverkauft. Mehr als 100 Leute mussten abgewiesen werden. Ein Dilemma, für das Leitner keine Lösung hat. Der Charme des eng bestuhlten Gasthofsaals würde in einem größeren Rahmen verloren gehen. Aber die große Nachfrage sollte befriedigt werden können, ganz im Sinne der Autoren sowie der Mentoren und Jurymitglieder, die an diesem Abend ebenfalls eigene Gedichte rezitieren konnten. Das Thema für den 9. Lyrikstier im nächsten Jahr steht übrigens schon fest. Es heißt "Heimat".