Gauting:Reine Fiktion

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Armin Kratzert liest aus seinem Roman

Von Sabine Zaplin, Gauting

Vor vier, fünf, sechs Jahren sei er in Wien gewesen, erzählt der Journalist und Autor Armin Kratzert bei der Vorstellung seines neuen Romans in der Gautinger Buchhandlung Kirchheim. Es war ein kühler Novembertag, so richtig geeignet für einen Museumsbesuch, und so landete Kratzert schließlich im Sigmund-Freud-Museum, in der Berggasse 19. Am Klingelschild stand "Dr. Freud", auf einem anderen der Name "Kafka".

Dies sei der Moment gewesen, wo es "klick" gemacht habe, wo die Idee entstand, erzählerisch den Gedanken zu spinnen, wie eine Begegnung zwischen dem Schriftsteller Franz Kafka und dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, wohl ausgesehen hätte. "Berggasse 19", heißt der Roman, aus dem Armin Kratzert am Mittwochabend in der Buchhandlung las.

"Dienstag, halb vier Uhr nachmittags. Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet, schreibt Kafka." Mit diesem Satz, der zu den berühmtesten der Weltliteratur zählt, beginnt der Roman. Es ist das Jahr 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Kafka, so fantasiert Kratzert, hat sich von seinem neuen Romanprojekt nach Wien treiben lassen: "Das Haus in der Berggasse ist prächtig. Franz Kafka wohnt seit wenigen Tagen hier. Er hat zwei Zimmer im dritten Stock gemietet. Ein Arzt mit seiner Familie beansprucht die erste Etage. Zwei alte Damen die zweite. Irgendein Büro. Hinten eine Werkstatt. Wien."

So beginnt die Geschichte, so beginnt Kafka seine Arbeit an "Der Prozess". Und klingelt bei seinem Nachbarn Freud. Und verliebt sich in Josefine. Und fühlt, dass eine Spannung in der Luft liegt, die von Gewalt erzählt. Von Krieg womöglich. Freud und Kafka sind sich nie begegnet. Aber so unwahrscheinlich ist diese fiktive Begegnung 1914 auch nicht.

"Armin Kratzert hat eine ausgezeichnete Ausstellung über Kafka im Münchner Literaturhaus kuratiert", stellt Hausherr Marc Schürhoff seinen Gast in Gauting vor, "er hat sich jahrelang mit dem Werk Franz Kafkas beschäftigt, er ist Literaturkenner und beim Bayerischen Fernsehen für alles verantwortlich, was sehenswert ist." Kratzert zählt zu den Initiatoren des BR-Kulturmagazins "Capriccio", schreibt Beiträge für "Lesezeichen", macht Dokumentarfilme über Literatur und Kunst. Und schreibt Gedichte, Theaterstücke und Romane.

"Berggasse 19" ist der zweite Roman, der im Peter Kirchheim Verlag erschienen ist und nicht das erste Werk Kratzerts, das Personen der Zeitgeschichte in fiktionale Verwicklungen schickt. "Alles hätte passieren können", sagt er in Gauting, und sein feines Lächeln in seinen Mundwinkeln verrät, dass ihm die raffiniert ersonnenen Verschiebungen von geografischen Eckdaten in biografischen Zusammenhängen diebisches Vergnügen bereitet. Ein Vergnügen, das sich während der Lesung rasch auf sein Publikum überträgt.

© SZ vom 02.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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