Gauting:Dada für Fortgeschrittene

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Es ist nicht das erste Mal, dass die Band "Hildegard lernt fliegen" im Landkreis gastiert - sie ist auch schon in der Schlossberghalle aufgetreten. (Foto: Georgine Treybal)

Die Schweizer Formation "Hildegard lernt fliegen" weckt im Bosco mit ihrer Einzigartigkeit Begeisterung

Von Reinhard Palmer, Gauting

Wer hätte gedacht, dass die Idee von Kurt Schwitters, die er zwischen 1923 und 1932 als "Ursonate" entwickelte, nach Jahrzehnten des Kuriositätendaseins 90 Jahre später ihre Vollendung finden würde? Freilich ist das Lautgedicht des maßgeblichen Mitgestalters des dadaistischen Weltbildes weit davon entfernt, was Andreas Schaerer stimmakrobatisch zu zaubern vermag. Doch der theoretische Ansatz, die Stimmwerkzeuge und die von ihnen erzeugten Laute als künstlerisches Medium zu betrachten, gilt auch für den Kopf der Schweizer Band "Hildegard Lernt Fliegen". Dass diese Kunst - so gesehen mit Jodeln, Scatten oder Rappen eng verwandt - heute mehr denn je fasziniert, bewies nicht nur das fast ausverkaufte Gautinger Bosco, sondern auch die frenetischen Ovationen des Publikums.

Das soll aber keinesfalls heißen, dass es hier um eine One-Man-Show ging. Die fünf Mannen hinter Schaerer mit mehr als doppelt so vielen Instrumenten hatten hier Schwerstarbeit zu leisten, damit die Musik so packend und die Skurrilität so treffsicher rüberkommt, wie es die Kompositionen Schaerers vorsehen. Doch die Arrangements sind mitnichten steril oder verkopft. Sie bauen auf klanglichen Ideen auf und zielen auf Überraschungseffekte sowie fremdartige Wirkungen ab. Gerade das enge Aneinanderreiben, die fragmentierte Phrasierung und die rhythmische Straffheit machen ein präzises Miteinanderagieren unabdingbar. Christoph Steiner (Schlagwerk, Marimba), Matthias Wenger (Saxophone und Flöte), Marco Müller (Kontrabass), Andreas Tschopp (Posaune und Tuba) sowie Benedikt Reising (Saxophone und Bassklarinette) wechselten denn auch gewandt und nahtlos den Status zwischen absolut zuverlässigen Orchestermusikern und inspirierten improvisierenden Solisten. Für Überraschungen waren sie zudem stets zu haben, griffen schon mal zum Regal (historische Kleinorgel), zu Kalimba oder Blockflöten.

Das Praktische an den stimmlichen Fähigkeiten Schaerers: Fehlt an einer Stelle ein passendes Instrument, so simuliert er es kurzerhand selbst. Ob Posaune, Trompete, Schlagwerk oder Streicher - seine Imitate sind kaum von Originalen zu unterscheiden. Und wer bis dato glaubte, dass für Mehrstimmigkeit auch mindestens zwei Sänger vonnöten sind, fand sich eines Besseren belehrt. Schaerer vermag seine opulente Beatbox mit Simulation eines reichhaltigen Percussionsinstrumentariums zugleich mit einer geschlossen dahinfließenden Melodie zu versehen. Faszinierend ist auch sein stimmlicher Umfang, der beim baritonalen Jazz/Popgesang beginnt, über unzählige Schmatz-, Schnalz-, Grunz-, Schnarch-, Zisch-, Flop-, Surr-, Schnarr-, Blupp-, Klick- und sonstige Klänge hinwegreicht, um nicht nur bis zum klassischen Countergesang zu gelangen. Bei Schaerer geht es noch weiter in flötende Höhen, nicht ohne Oberton-, Kehl- und Jodelgesang zu bemühen. Dieses Stimmspektakel fasziniert.

Welcher Gattung sich Hildegard Lernt Fliegen zugehörig fühlt, ist nicht eindeutig zu erraten. Im Grunde enthält die Musik dieser Formation ein breites Spektrum an stilistischen und gattungsrelevanten Merkmalen, von Alter und Neuer Musik über Dada bis hin zu Jazz jeglicher Couleur. Es konnte schon darin packend bebopen, klangexperimentell freejazzen oder narrativ musical'n. Pop und Rock nicht ausgeschlossen. Entscheidend dabei: Immer neu interpretiert und einzigartig, zudem mit viel Humor, der pantomimisch, aber auch in der spritzig-pfiffigen Manier der instrumentalen Sätze bis hin zu Chaosausbrüchen umgesetzt wird. Sympathie weckten ferner zweifelsohne die Ansagen mit Schweizer Sprachcharme, der im Kontext zu den englischen Songtexten irgendwie zum dadaistischen Element avancierte.

© SZ vom 05.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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