Feldafing:Im Westen nichts Neues

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Ihre Vorfahren kämpften gegeneinander, sie lesen miteinander: Bruno u. Sophie Habersetzer, Aja u. Franz von Lerchenhorst (v. li.). (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Der Schulleiter des Gymnasiums Tutzing, Bruno Habersetzer, und der Historiker Franz von Lerchenhorst lesen aus Briefen ihrer Schwiegergroßväter, die sich im Ersten Weltkrieg bekriegten

Von Clara Brügge, Feldafing

Ein junges Paar, das eilig an einem Hochhaus vorbeigeht. Ein Mann, der an einem Laternenpfahl lehnt und eine Zigarette raucht. Die Gemälde, die an den Wänden der Galerie Moderne Kunst in Garatshausen hängen, zeigen Szenen einer modernen Großstadt. Szenen, die in einem eigenartigen Kontrast zu dem stehen, was an diesem Abend in der Galerie stattfindet: Bruno Habersetzer, Schulleiter des Gymnasiums Tutzing, und der Historiker Franz von Lerchenhorst lesen aus den Briefen und Aufzeichnungen ihrer Schwiegergroßväter, die einst im Ersten Weltkrieg auf verfeindeten Seiten gegeneinander kämpften - in der großen Schlacht von Verdun. Doch vielleicht ist die Galerie gerade deswegen ein passender Ort für die Lesung: Weil sie die historischen Umstände von vor 100 Jahren der scheinbar heilen Welt von heute so eindrucksvoll gegenüberzustellen vermag.

Denn die Mischung aus Euphorie und Nationalismus zu Kriegsbeginn ist heute nur noch schwer begreifbar. Das wird deutlich, als von Lerchenhorst Auszüge aus Briefen vorliest, die sein Schwiegergroßvater Fritz Burger 1914 an seine Ehefrau schickte. In ihnen schildert er seine Eindrücke aus München "am Vorabend eines Weltkriegs" - "'Deutschland, Deutschland über alles', donnert es von überall", heißt es darin. Burger schreibt von einer "allgemeinen Begeisterung, die jeden mitriss". Im August desselben Jahres wird er einberufen und landet nahe der deutsch-französischen Grenze. Dort schlägt die anfängliche Kriegsbegeisterung schnell in nüchterne Erkenntnis um. Doch die Abneigung gegen den Erbfeind Frankreich überwiegt zunächst: "Keiner der Verwundeten freut sich, dass er heil davon gekommen ist. Sie wollen alle wieder zurück ins Feuer", beschreibt Burger die Truppenmoral. Burger hält viele Eindrücke aus den Schlachten fest, spricht vom "furchtbaren Zauber des Flammenmeers", von zerstörten Dörfern und der ständigen Frage, ob die Soldaten den nächsten Tag erleben werden. Im Frühjahr 1916 kommt Burger nach Verdun - und ahnt bereits, dass er diese Schlacht nicht überleben wird. In den letzten Briefen vor seinem Tod zieht er mit Blick auf die Zukunft bereits eine Lehre aus dem Weltkrieg: "Die neue Zeit verlangt Menschheitsgemeinschaft."

Jacques-Henri Lefebvre, Schwiegergroßvater von Habersetzer, kämpfte auch in Verdun - allerdings auf französischer Seite. Habersetzer liest aus einem Buch, in dem Lefebvre 50 Jahre später seine Eindrücke festhielt. Auch hier wird ausgeprägter Chauvinismus deutlich. Der Franzose schreibt von den "Tugenden" seiner Armee, die auch in unübersichtlichen Kämpfen zielsicher agiere. Die deutsche Tapferkeit hingegen bezeichnet er lediglich als das Ergebnis "preußischen Drills und des Respekts vor den Vorgesetzten". Habersetzer wirft auch eigene Bemerkungen ein; so habe ihn vor allem eine Buchpassage bewegt, in der Lefebvre von dem Befehl "Halten bis zum letzten Mann" schreibt. "Das war ein Todesurteil, das mit größter Menschenverachtung ausgesprochen wurde", sagt Habersetzer. Täglich seien in Verdun 6000 Soldaten ums Leben gekommen. Das Massensterben wurde im Lauf des Kriegs zu etwas so Alltäglichem, dass auf die Frage "Wie ist die Lage?" die berühmte zynische Antwort folgte: "Im Westen nichts Neues". Die Schlacht um Verdun endete ohne nennenswerte Territorialgewinne. Lefebvre wollte dennoch den Opfern eine Bedeutung geben - nach den kriegerischen Auseinandersetzungen sei es immerhin zur deutsch-französischen Aussöhnung gekommen. In den Augen der Soldaten von Verdun sei ein geeintes Europa schon damals eine "Utopie" gewesen, sagt auch Margit Kleber, deren Oberstufenschüler vom Tutzinger Gymnasium die Lesung organisierten. Diese Utopie sei heute Wirklichkeit - dass es so bleibe, liege nun in den Händen einer neuen Generation.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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