Dießen:Masche mit Zukunft

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Das gewerbliche Stricken ist in Deutschland so gut wie ausgestorben - für Christiane Grafs textile Kollektionen finden sich jedoch zahlreiche Kunden. (Foto: Arlet Ulfers)

Christine Graf ist die letzte professionelle Handapparatestrickerin in Bayern. Im Blauen Haus Dießen will sie ihr Kunsthandwerk an Lehrlinge weiter geben - und hat dafür eigens die Ausbildungsordnung erarbeitet

Von Armin Greune, Dießen

Die Textilkünstlerin Christiane Graf will im "Blauen Haus" ein hierzulande fast ausgestorbenes Handwerk wiederbeleben. Die 64-jährige Dießenerin, die in Utting aufgewachsen ist und dort jahrzehntelang gelebt hat, plant bis zu drei Ausbildungsplätze für "Textile Gestaltung im Handwerk, Bereich Stricken" einzurichten. Die Lehrwerkstatt soll im ehemaligen Schulungsraum des "Blauen Hauses" eingerichtet werden. Auch aus diesem Grund hofft Graf, dass sie das Erdgeschoss des gemeindeeigenen Gebäudes anmieten kann.

Seit einem Jahr führt sie das Kultcafé im "Blauen Haus" und bietet dort mit ihrem Mann Frank Mittagessen, Feinkost, Strickmode und Wolle an; veranstaltet Handarbeitskurse und organisiert für den Saal nebenan Events. Jürgen Bahls hat die Räume an sie untervermietet, er wird jedoch das einstige Hotel bis Juli 2017 verlassen - wie es die Gemeinde künftig nutzt, ist noch offen. Für Grafs Ausbildungsstätte wäre der große Raum hinter dem Saal geeignet, dort könnte sie die Strickmaschinen aufstellen, die jetzt im ganzen Haus verstreut sind.

Um das Stricken als traditionelles Kulturgut in Deutschland zu erhalten, hat Graf dazu für das Bundesbildungsministerium im Auftrag der UNESCO sogar eine neue Ausbildungsordnung erarbeitet. Anfang August ist dazu ein Steckbrief der Bundesagentur für Arbeit im "Berufenet" erschienen. Wenn sich ihre Pläne realisieren lassen, wäre Dießen deutschlandweit die einzige Ausbildungsstätte für den Beruf Handapparatestricker/-in, sagt Graf: "Der Beruf ist verloren gegangen." Sie habe bereits mehr Bewerber als Ausbildungsplätze und möchte "Jugendlichen ohne Schulabschluss, die hier aufgewachsen oder dazugekommen sind, eine Chance bieten". Von Maschinen unterstütztes Stricken könnten auch Asylsuchende erlernen, die handwerkliches Geschick mitgebracht haben, denen aber unser Bildungssystem - etwa wegen fehlender Sprachkenntnisse - nicht gerecht wird. Nach dreijähriger Lehrzeit und einem Jahr an der Textilfachschule ließe sich ein Ausbildungsabschluss in einem Nischenberuf erreichen, der inzwischen wieder in Deutschland zukunftsfähig wäre. Zumindest Graf selbst kann als derzeit letzte professionelle Strickerin in Bayern davon gut leben, sie fertigt unter dem Label "Moda Nova" auf Strickmaschinen textile Kollektionen und Unikate.

Wie Graf erzählt, hat sie das Stricken noch vor der Einschulung von der Großmutter erlernt. Während die Oma Muster für die Badischen Angora Werke fertigte, entwarf die Enkelin Kollektionen für die französischen Modepuppen im Haus. Grafs Eltern arbeiteten beide als Bildhauer und zogen mit ihr nach Utting, als sie sechs war. Ihr Vater Bertl Graf wurde bis zu seinem Tod 2001 zu einer legendären Gestalt in der Künstlerszene am Ammersee und blieb mit originellen Aktionen gegen selbst ernannte Autoritäten in Erinnerung.

Auch wenn Christiane Graf von 2003 bis 2008 den Uttinger SPD-Ortsverein anführte, muss wohl mindestens ein Funken vom anarchistischen Schalk des Vaters auf die Tochter übergesprungen sein. So beteiligte sich Christiane Graf vor etwa zehn Jahren an einer "Guerilla Knitting"-Aktion, bei der dem Weilheimer Marienplatz über Nacht eine neues Maschenkleid verpasst wurde. "Das war aber viel schneller wieder verschwunden, als wir für das Stricken gebraucht haben", sagt Graf und lacht. Ihr rebellischer Geist regte sich auch nach dem Studium an der Werkkunstschule, wo sie zur Kunsterzieherin ausgebildet werden wollte. Als sie aber das Kultusministerium 1974 "in die bayerischen Randgebiete jenseits des Chiemsees verschicken wollte", steckte sie die Staatsdienst-Karriere auf.

Stattdessen verlegte sie sich darauf, individuelle Kleidungsstücke zu entwerfen, an der Strickmaschine anzufertigen und zu vermarkten: "Anfangs in einem winzigen Floh-Laden in Utting", wie sie erzählt. Rund 30 Mal hatte Graf einen Stand auf den Frankfurter Messen, in Florenz konnte sie Kontakte zum renommierten Modehaus Cavalli knüpfen. Auf diese Weise baute sie ihren Kundenkreis auf, zudem erstellte sie auch Muster für große Textilwerke.

Darüber hinaus organisierte Graf - die "nebenher" noch drei Kinder großzog - auch selbst Verkaufsveranstaltungen. Jahrzehntelang war sie für die Kunstausstellung im Eisernen Haus von Schloss Nymphenburg zuständig, seit 1995 veranstaltet sie den Sommermarkt am Ammersee - erst in Stegen, dann im Uttinger Summerpark. 2004 hob sie auch den Wintermarkt im Blauen Haus aus der Taufe: Er soll heuer zu einer ganzen "Blauen Woche" wachsen. Ebenfalls seit zwölf Jahren führt Graf ihr "Moda Nova"-Geschäft im Haus Prinz-Ludwig-Straße 16. Vor drei Monaten sind sie und ihr Mann in eine Wohnung oberhalb des Ladens umgezogen - schräg gegenüber vom Blauen Haus. Die Organisation von Sommer- wie Wintermarkt will die 64-Jährige demnächst "in jüngere Hände übergeben". Doch noch mehr ist die Weitergabe ihres Handwerk für Graf eine echte Herzensangelegenheit: "Alles steht schon in den Startlöchern". Sie habe sogar Förderer gefunden, die zwei der Ausbildungsplätze finanzieren würden.

© SZ vom 21.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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