Der Anruf kommt aus Estland. Magdalena Witty und Benedikt Ummen klingen erleichtert, wieder in der Europäischen Union angekommen zu sein. Weil es hier überall Strom gibt. Für die 29-Jährige und ihren 27-jährigen Freund ist diese Tatsache essenziell: Mitte April sind die beiden von Utting aus in Richtung Zentralasien aufgebrochen. Nicht mit einem Wohnwagen, nicht mit dem Rad und schon gar nicht mit dem Flugzeug. Die Beiden haben als Reisegefährt ein Elektroauto gewählt.
Ein halbes Jahr haben sich Witty und Ummen für diesen doch so besonderen Trip Zeit genommen. Der Ingenieur und die Unternehmensberaterin hatten sich vor etwas mehr als drei Jahren in der Schweiz kennengelernt, wo sie beide in kleineren Unternehmen arbeiteten. Ein wichtiger Punkt, denn sonst wäre es womöglich gar nicht zu dieser Reise gekommen: "Es stand schon länger für uns fest, dass wir irgendwann eine längere Reise zusammen machen wollten, aber es ergab sich jetzt, weil wir beide in unserem Job in diesen Betrieben nicht mehr weiterkommen konnten." Dieses "Jetzt", von dem Magdalena Witty spricht, war Ende 2016. Wenige Monate zuvor, im Herbst, hatte sich das Paar das Elektromobil gekauft - eines mit einer größeren Batterie. Eines, mit dem man etwa 400 Kilometer weit fahren kann. Nach einem Vierteljahr Vorbereitungszeit starten sie bei Wittys Familie in Utting. Das Vorhaben wurde von der Verwandtschaft, von Freunden zunächst mit etwas Skepsis gesehen. Denn die Menschen um das Paar herum fragten sich, wie sehr Reisende mit Elektroautos in Ländern willkommen geheißen würden, deren Haupteinnahmequelle Öl und Gas sei. Doch das, so erzählt Ummen, habe sich als "völlig" haltlos erwiesen.
Schwieriger hingegen schien die Frage, wie überhaupt an Strom in Gegenden zu kommen ist, die nicht gerade bekannt für ihre Dichte an Ladesäulen sind. "Da kam es uns sehr zugute, dass Benedikt Maschinenbau studiert hat", sagt Magdalena Witty. In vielen Ländern, vor allem in Zentralasien, hatten die beiden Reisenden keine Chance eine "normale" Steckdose zu finden. "Da mussten wir dann unser Ladekabel direkt an dem Sicherungskasten anschließen", erzählt sie. Alles kein Problem, meint ihr Freund, ein gebürtiger Nordrhein-Westfale. Man benötige dafür lediglich eine Sicherung, die 32 Ampere erlaube, und ein Kabel mit offenen Enden: "Man darf nur keinen Anschluss vertauschen, sonst holt man sich einen gehörigen Stromschlag ab", sagt er.
Doch zunächst müssen sich die beiden auf ihrer Reise noch keine Gedanken darüber machen. Von Utting aus fahren sie erst in die Schweiz, dann über Österreich und Slowenien nach Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Ende April erreichen sie Montenegro und werden von Schnee überrascht. Das erste Abenteuer, wie sie es nennen. Denn ihr Auto ist nur mit Sommerreifen ausgestattet. Weiter geht es in Richtung Albanien und Kosovo. Dort lernen sie Einheimische kennen, die Hochzeit feiern wollen. Ein Ereignis, das sich dort über mehrere Tage hinstreckt - und bei dem Autos eine gewichtige Rolle spielen. Ein großer Fahrzeugkonvoi führt am Haupttag dieses Festes die Hochzeitsgesellschaft an. Das schönste und tollste Auto fungiert dabei als "Fahnenführer". Die Wahl fällt den Dorfbewohner diesmal ganz leicht - das Auto von Witty und Ummen wird dafür auserkoren. "Das war schon was ganz Besonderes für uns", sagen sie darüber.
Über Bulgarien erreichen sie die Türkei und verlassen dort erstmals die Grenzen der EU. Die Türkei hatte ihnen anfangs recht große Sorgen bereitet, die Terroranschläge dort oder auch Erdogans Politik, die sie abschreckte. Vor Ort jedoch habe sich alles ganz anders als erwartet angefühlt, viel sicherer. In Istanbul zum Beispiel bleiben sie länger als geplant. Der vielen Sehenswürdigkeiten wegen und weil das "wirklich gute" Hotel, in dem sie untergebracht sind, für einen "Spottpreis" zu haben ist. Die Sache mit dem sicheren Gefühl erklären sie über die Menschen dort, die ja auch ihr normales Leben weiterführen müssten. Von bedrohlichen Situationen bekommen sie nicht viel mit - und das, obwohl vor allem Istanbul noch wenige Wochen vor ihrer Ankunft dort massiv gegen das Verfassungsreferendum Erdogans gestimmt hatte. Nur zwei Dinge seien dort unangenehm, sagen sie: die Terroranschläge im Land, die aber auch in anderen Städten auf der Welt passieren könnten, und die spürbare Wandlung des Landes in einen Polizeistaat. So viele Überwachungskameras wie dort hätten sie beide noch nie gesehen, beteuern sie.
In Georgien tanken sie das vorerst letzte Mal Strom an einer Ladesäule. Mit dieser Füllung erreichen sie Armenien. Dort haben sie mehr Zeit eingeplant, weil sie schon ahnen, wie langwierig es sein würde, ihr Auto zu betanken. 24 Stunden etwa dauert das an einer ganz normalen Haushaltssteckdose. Etwas anderes, das wissen sie, gibt es dort nicht. "Wir waren daher viel in den Bergen wandern", erzählt Magdalena Witty. Die Langsamkeit, die ihnen die Umstände aufdrängen, genießen beide sehr: "So eine Reise ist ja wie ein Projekt, man muss viel daran arbeiten." Sie haben ein Papier dabei, in den Sprachen der Länder, die sie bereisen. Darauf ist zu lesen, was sie für ihr Auto, für ihre Weiterfahrt benötigen. Insgesamt scheitern sie etwa bei 50 Prozent ihrer Stromsuchen, die andere Hälfte der Angefragten, "die mit dem größeren technischen Verständnis" stellen ihre Stromladequellen zur Verfügung: "Interessant dabei ist, dass das Vertrauen der Menschen in uns nun auf unserer Rückreise wieder abnimmt. Da heißt es dann oft in den Hotels: nicht ohne meinen Elektriker."
In Iran, ihrer nächsten Station nach Armenien, ist das jedoch noch ganz anders. "Speziell", wie sie sagen. Denn erst einmal erleben sie einen "Kulturschock" - die viel gerühmte Gastfreundlichkeit der Perser sei noch größer als gedacht gewesen. Dafür aber arbeite die dortige Tourismusbranche "absolut unprofessionell". Wenn sie beispielsweise im Hotel nach Stromquellen fragen, bekommen sie keine Antwort oder ein "Das gibt es hier nicht." Dafür sind die Menschen im Land mehr als hilfsbereit: "Wir haben häufiger bei Wildfremden unser Auto betanken dürfen."
Das wahrscheinlich Spannendste für beide ist der Grenzübertritt nach Turkmenistan. Acht, neun Stunden dauert es, bis sie mit ihrem E-Auto einreisen können: "Die Zöllner konnten damit absolut nichts anfangen." Eine "Tour-Company", die sie angeheuert haben, zieht alle Register: Stundenlang wird mit der Hauptstadt Aşgabat telefoniert. Dort, so erzählen sie, gebe es seit einiger Zeit ein Gesetz, das nur weiße Autos in der Stadt erlaube: "Unseres ist nur leider schwarz mit gelben Aufklebern." Am Ende bekommen sie das Plazet einzureisen - ins Land, aber nicht in die Hauptstadt. Sie parken ihr Auto vor der Stadt und schauen sie sich trotzdem an: "Dort ist alles weiß, sogar die Straßenlaternen." Früher seien dort die Wochentage nach der Verwandtschaft des jeweiligen Machthabers benannt worden. Das gebe es zwar nicht mehr, dafür aber jede Menge eingetragene Weltrekorde. Zum Beispiel, dass nirgendwo sonst so viel Marmor verbaut worden ist wie dort. Es gebe auch "unglaublich viel Polizei dort", die sich meist hinter Bäumen auf die Lauer nach Verkehrssündern lege.
Über Usbekistan, das Land mit den besterhaltenen Bauten an der alten Seidenstraße, wie sie sagen, gelangen sie nach Kasachstan. Dort wird es in Sachen Strom noch einmal richtig spannend für die beiden. Denn Kasachstan ist ein riesiges Land, in dem man auf weite Strecken auf keinerlei menschliche Siedlung treffen kann, also auch auf keinen Strom. Die längste Distanz ohne jegliche Zivilisation liegt für die Beiden auf der Strecke zwischen Almaty und Astana. 300 Kilometer keinerlei Chance auf eine Tankfüllung. Danach nur drei theoretische Möglichkeiten. Viermal mussten sie fragen, wie sie erzählen, bis ihnen ein Cafébesitzer nicht nur ein Abendessen verkauft, sondern auch Strom. Die Lademöglichkeit ist eine dreiphasige Steckdose. Zweieinhalb Stunden dauert es, bis sie weiterfahren können.
In Astana werden sie dann zur dortigen Expo in den Schweizer Pavillon geladen - passenderweise, denn das Thema dort ist "Future Energy". Mit dem Bundesrat für Finanzen, also dem Schweizer Finanzminister, Ueli Maurer, gehen sie essen. Er träume davon, diese Strecke mal mit dem Rad zurückzulegen, erzählen sie: "Wir konnten ihm einige Tipps geben." Dann geht es langsam wieder auf die Rückreise. In Russland zum Beispiel finden sie wieder reguläre Starkstrom-Ladedosen: "Von Kilometer zu Kilometer wurde es immer einfacher, normaler für uns." Keine Polizeikontrollen mehr, eine funktionierende Tourismusbranche. Seither, so sagen die beiden, fühlten sie sich nicht mehr als Reisende, sondern als Urlauber. Über Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien führt ihre Route wieder zurück nach Süddeutschland. Im September wollen sie dort eintreffen - bei Magdalena Wittys Familie in Utting.