TSV Unterhaching:Nachwuchsbetreuung im Wohnzimmer

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„Eine super Leistung“: Moritz Braig, der Jüngste im Team, überzeugt bei seinem Heimdebüt mit zwei Unentschieden, unter anderem gegen den Briten Jake Jarman, Silbermedaillist beim Weltcup in Paris. (Foto: Claus Schunk)

Das Turnteam Oberbayern um Routinier Jakob Paulicks will in die Bundesliga - der Start gelingt mit zwei Siegen.

Von Andreas Liebmann, Unterhaching

Vermutlich hätte Marcel Nguyen keine vertrauten Stimmen aus der Geräuschkulisse herausfiltern können. Gegeben hätte es sie sicher: Familie, Freunde, Bekannte, die ihn von den Rängen frenetisch anfeuern. Trotzdem wären ihre Rufe vermutlich untergegangen in dem Lärm vieler Tausend Menschen. Eine Weltmeisterschaft vor eigenem Publikum ist für jeden Sportler etwas ganz Besonderes. Nguyen, der 32-jährige Olympia-Zweite von 2012, übertrieb also keineswegs, als er den Verzicht auf seine Teilnahme vor einigen Tagen als schwerste Entscheidung seiner Karriere bezeichnete, als zerplatzten Traum. Als er erzählte, was er noch alles versucht habe, klang seine eigene Stimme brüchig. Der seelische Schmerz, versicherte er, sei größer als der körperliche.

Am 4. Oktober beginnt in Stuttgart die WM im Turnen. Wer die Homepage des Veranstalters anklickt, sieht immer noch in einem Image-Video als Erstes, wie Marcel Nguyen seine tätowierten Arme ins Bild hebt. Er ist ein Gesicht der Mannschaft. Der zurzeit erfolgreichste deutsche Turner, der in der Liga für Straubenhardt startet, ansonsten aber für seinen Heimatverein TSV Unterhaching - und der eben in Stuttgart lebt und trainiert. Dort hat er vor zwölf Jahren die erste von inzwischen zehn internationalen Medaillen gewonnen, WM-Bronze mit der Mannschaft. Bis zuletzt hatte Nguyen gehofft, erzählte er in einer Pressekonferenz, nachdem ihm im September die Supraspinatus-Sehne in der linken Schulter angerissen war. Erst als er vor einigen Tagen bei einer Übung am Barren einbrach, wusste er, dass er um eine Operation doch nicht herumkommen würde, und dass sein Einsatz der Mannschaft gegenüber unverantwortlich wäre. Er will sich ja im kommenden Jahr mit den Olympischen Spielen in Tokio einen noch größeren Traum erfüllen, ehe er seine Karriere wohl beendet. Nebenher baut er in Unterhaching, es ist demnach nicht unwahrscheinlich, dass er in seine Heimat zurückkehrt.

"Ziemlich bitter für Marcel", sagt Paulicks über das WM-Aus für seinen Freund Nguyen

"Es hat sich schon angebahnt", sagt Jakob Paulicks über die Hiobsbotschaft, die natürlich auch in Unterhaching am Wochenende die Runde machte. "Es ist ziemlich bitter für Marcel." Natürlich fiebere man mit und freue sich, wenn einer aus den eigenen Reihen international starte, sagt er. Paulicks, kürzlich 29 geworden, pflegt seit vielen Jahren einen engen Kontakt zu Nguyen. Seine Mannschaft, sagt er, habe das am Wochenende aber nicht beeinflusst, "das blendet man aus". Schließlich hat der TSV Unterhaching in der zweiten Liga gerade selbst sehr ehrgeizige Ziele. Er würde mit dem Turnteam Exquisa Oberbayern gerne aufsteigen. Und Rückkehrer Paulicks, der vor etwas weniger als einem Jahr noch mit der KTV Obere Lahn deutscher Mannschaftsmeister war, soll dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Paulicks konnte sehr wohl ein paar vertraute Stimmen heraushören am vergangenen Samstag beim 58:20-Sieg gegen den TSV Buttenwiesen. Und er genoss das. Es waren natürlich keine Tausende, die sie auf der Tribüne der Unterhachinger Halle anfeuerten, schon gar nicht an einem sonnigen Wochenende, an dem in München das Oktoberfest beginnt und der FC Bayern zu Hause spielt. "Da hat man es als Turner schwer." Aber die Stimmung war gut, alles habe sich vertraut angefühlt. "Die Halle ist immer noch wie mein Wohnzimmer", sagt Paulicks, "ich kenne alle Geräte." Und natürlich kannten die Zuschauer ihn.

Zehn Jahre lang war Jakob Paulicks in der Deutschen Turnliga für andere Vereine aktiv, 2008 hatte er den vorerst letzten Wettkampf für seinen Heimatverein bestritten, dessen Turnabteilung sein Vater Oskar leitet. Die übliche Grundnervosität sei schon da gewesen, bemerkte er nach dem ersten Auftritt daheim seit seiner Rückkehr - mehr aber nicht. Seine Übungen seien recht locker gelaufen, etwas anders als beim Saisonauftakt eine Woche zuvor in Bühl, als es am Barren etwas gehakt habe. Dieses Mal lief es eher bei anderen holprig. Boden und Sprung seien besser gelaufen als erwartet, an Pferd, Ringen und Barren gab es kleine Patzer. Der junge Brite Pavel Karnejenko habe wie schon in der Vorwoche ein paar Probleme gehabt, sich aber gesteigert. Der 19-Jährige ist eine von zwei ausländischen Optionen neben dem Holländer Casimir Schmidt, mit denen die Oberbayern in die Saison gegangen sind.

Das beste Mittel gegen Nervosität: "Jeder Sieg gibt Selbstvertrauen", der Rest ist Erfahrungssache

Viel wichtiger als die eigene Rückkehr findet Paulicks die Leistung der ganz jungen Turner im Team. Wie Fabian Dauth, Jonas Olbrich und Samuel Dobrovsky, alle Jahrgang 2000; oder Felix Kriedemann und Moritz Braig, die sogar noch zwei beziehungsweise drei Jahre jünger sind. Die versuche er zu unterstützen, viel mit ihnen zu reden, sagt Paulicks. Die drei Erstgenannten hat er damals selbst noch ein bisschen im Jugendtraining betreut, "das finde ich sehr schön, jetzt mit ihnen gemeinsam zu turnen und zu sehen, was daraus geworden ist". Bislang liegt die Mannschaft auf Kurs. Aufsteiger TV Bühl war der ideale Auftaktgegner: Der klare 85:8-Sieg wurde dadurch erleichtert, dass den Gastgebern kurzfristig ihre britische Verstärkung ausgefallen war. Buttenwiesen war dann schon eine Nummer stärker. "Jeder Sieg gibt Selbstvertrauen", sagt Paulicks. Nächste Woche allerdings geht es zur KTV Ries, "das wird ein großer Brocken, da müssen wir die Übungen auf den Punkt bringen."

Ein bisschen Nervosität sei am Samstag bei den Jüngeren schon zu spüren gewesen, das sei Erfahrungssache. "Natürlich sagt man immer, dass sie einfach nur wie im Training turnen müssen, aber wenn man dann auf der Wettkampfmatte steht und den Arm hebt, ist das doch nicht mehr so einfach." Umso beeindruckender fand der Routinier die Vorstellung des Jüngsten im Team. Moritz Braig sicherte in seinen zwei Einsätzen jeweils Unentschieden, dabei hatte er es am Boden mit dem Briten Jake Jarman zu tun, der gerade erst beim Weltcup in Paris Silber im Sprung gewann. "Eine super Leistung", lobte Paulicks den Debütanten dieser Saison.

Übrigens wird der TSV Unterhaching auch bei der WM in Stuttgart am Start sein - in Person von Lukas Dauser. Auch bei ihm hatte man kurz bangen müssen, als er sich bei einem Länderkampf einen Anriss des hinteren Innenbandes im Fuß zuzog, doch hier gab es vor einigen Tagen Entwarnung. Dausers Einsatz in Stuttgart ist wohl nicht gefährdet.

© SZ vom 24.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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