Triathlon:Eiserne Disziplin

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Andrej Heilig war einer der besten bayerischen Triathleten. Bis er nach einem Unfall ins Koma fiel. Seitdem steht der Familienvater täglich vor einem ganz neuen Kampf, zurück ins Leben

Von Karl-Wilhelm Götte, Germering

Wie wird ein Fortschritt gemessen? Sportlich ging es dem Triathleten Andrej Heilig immer darum, sich um Minuten oder zumindest um Sekunden zu verbessern. Heilig, der für den TSV Unterpfaffenhofen-Germering startete, gehörte zu den besten Amateuren in Bayern, gewann mehrmals den Tölzer Triathlon und den Wörthsee-Triathlon. Heilig schaffte den Ironman - 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer Laufen - in 8:59:47 Stunden, er war bei der WM auf Hawaii dabei. Jetzt ist es schon ein Fortschritt, wenn Heilig sich im Schwimmbad ohne Hilfe am Geländer festhalten und ins Becken tasten kann. "Bisher musste ich oder jemand anders ihn dabei stützen, wenn er zur Reha-Maßnahme ins Wasser geht, um sich dort zu bewegen", erzählt Kathrin Reintjes, Andrej Heiligs Frau. Davor brauchte er sogar eine Art Lift, der ihn ins Bassin absenkte.

Eineinhalb Jahre ist es her, als Andrej Heilig in den USA von einem Auto überfahren wurde. Im Juni 2013 war er mit dem Fahrrad auf dem Heimweg von einem Wettkampf, als er an einer Kreuzung von einem Auto erfasst wurde. Der Tod, so kann man das sehen, hat Andrej Heilig damals gestreift.

Heilig, damals 36, war mit seiner Frau Kathrin und den zwei Kindern zwei Monate zuvor nach Raleigh in den US-Staat North Carolina aufgebrochen. Der Lebensmittelwissenschaftler hatte ein Stipendium angenommen und wollte als Semi-Profi erstmals ernsthaft testen, was im Triathlon für ihn möglich sein könnte. Bei dem Unfall erlitt er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und fiel ins Wachkoma.

Als Andrej Heilig aus einer Klinik in North Carolina nach Deutschland verlegt wurde, war das Krankenhaus in Duisburg seine erste Station. Später siedelte sich die Familie in der Heimat seiner Frau am Niederrhein an. Seitdem sucht der einst austrainierte "Eisenmann" seinen Weg zurück in ein normales Leben. Sohn Emil ist inzwischen fünf Jahre alt, Töchterchen Marlena zwei.

Wie geht das, zurück ins normale Leben? Und: Was ist das überhaupt?

Manchmal sind es nur winzige Schritte. "Andrej muss alles wieder neu lernen", sagt Kathrin Reintjes: Gehen. Sprechen. Alles. Das ist äußerst mühsam, ihr Mann ermüdet schnell. Manchmal dauert es Monate, bis es vorangeht. Der Alltag der Familie kreist jetzt um Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie. Ihr Mann müsse ständig üben, die Hände weniger einzusetzen, sich weniger festzuhalten, sagt Kathrin Reintjes. Verzweifelt klingt sie nicht.

Manchmal sitzt Andrej Heilig am PC und schreibt eine E-Mail. "Neulich hat er fünf Sätze geschrieben", sagt Reintjes, "manchmal, wenn er müde ist, reicht es auch nur zu einem 'Hi' für einen Freund." Sie empfinde diesen Alltag inzwischen als normal. "So ist das Leben gerade", sagt sie.

Die Familie machte schwere Zeiten durch. Zu den gesundheitlichen Komplikationen kamen Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse, die im Februar 2014 die Verlängerung der Reha zunächst nicht bewilligen wollte. Es sei "kein relevanter Reha-Progress erkennbar", schrieb die Kasse. Ebenso wenig schienen ihr "alltagsrelevante Ziele in einem überschaubaren Zeitraum" erreichbar zu sein. "Welcher Zeitraum ist für einen damals noch 36-Jährigen überschaubar?", fragte Kathrin Reintjes zurück.

Im Mai 2014, ein Jahr nach dem Unfall, war die stationäre Therapie abgeschlossen, Heilig durfte nach Hause. "Seitdem hat er die meisten Fortschritte gemacht", erzählt Reintjes. Bis Juli musste der ehemalige Ausdauerathlet Nahrung über eine Magensonde aufnehmen, "mittlerweile isst er alles. Ich muss ihn sogar bremsen."

Zehn Tage, nachdem er zu Hause angekommen war, begann Andrej Heilig damit, sich an einem kleinen Reck hochzuziehen. Gesprochen hat er lange nicht. "Plötzlich hat er dann ,Gute Nacht' zu mir gesagt", erzählt Reintjes. Für sie war das ein wunderbares Erlebnis, das ihren Glauben an weitere Fortschritte bestärkte. Wenn sie jetzt ein Wort nicht versteht, weil ihr Mann es undeutlich ausspricht, buchstabiert er es für sie. Den Kindern liest er Gute-Nacht-Geschichten vor. Die beiden wüssten, dass ihr Vater damit einige Mühe hat, aber sie zeigten große Geduld mit ihm. Wenn Freunde zu Besuch kommen, höre er jedoch meistens nur zu. "Er beteiligt sich nicht oft am Gespräch", sagt Reintjes, aber er freue sich, wenn jemand vorbei komme.

"Wollen Sie mit ihm sprechen?", sagt Reintjes und reicht den Telefonhörer kurz entschlossen an Andrej Heilig weiter.

Wer Andrej Heilig früher begegnet ist, bei Wettkämpfen, für Interviews oder Porträts, erinnert sich an einen eloquenten Gesprächspartner, der dezidiert seine ablehnende Haltung zum verbreiteten Epo-Doping in der Profi-Triathlonszene unterstrich. Jetzt am Telefon sind seine Worte kaum zu verstehen. Seine Frau dolmetscht. Ihr Mann habe gesagt: "Das ist alles blöd gelaufen."

Die kleinen Fortschritte, die Andrej Heilig macht, sind für die ganze Familie ein großes Glück. Das war nicht immer so. Sein Gedächtnis - bis auf die Erinnerung an den Unfall und die Reha-Maßnahme - ist wieder da, doch das macht den Weg in eine gefühlte Normalität nicht unbedingt leichter. Immer wieder überfielen Andrej Heilig Zweifel, ob alles wieder ins Lot kommt. Er habe sich mit seinem früheren Ich verglichen und keinen Sinn darin erkannt, sich den Mühen der Therapie zu unterziehen. "Diese Zeiten sind vorbei", sagt Kathrin Reintjes. Sie hat Hoffnung. Die 35-Jährige ist ebenfalls Lebensmitteltechnologin und hat ein Angebot erhalten, demnächst in ihren Beruf zurückzukehren.

Andrej Heilig ist in der Triathlonszene nicht vergessen. Immer wieder gibt es Sammelaktionen für ihn bei Wettkämpfen. "Ich freue mich sehr, dass es aufwärts geht mit ihm", sagt sein Germeringer Vereinskollege Maximilian Krumm. Auch er hat eine Spendenaktion für den langjährigen Rivalen initiiert. "Neulich habe ich mit ihm eine halbe Stunde telefoniert", erzählt Krumm. Er hat sich in Heiligs Duktus eingehört. "Er spricht schon ganz gut", findet der 30-jährige Sportwissenschaftler. Es werde dauern, aber auch das Reden werde wieder besser werden. Krumm ist überzeugt, dass Heilig seine sportliche Vergangenheit helfen wird, wieder auf die Beine zu kommen: "Ich glaube fest daran, dass er wieder laufen kann." Krumm sagt "laufen" im Sinne von gehen. Dem Eisenmann Andrej Heilig ist zuzutrauen, dass er eines Tages auch wieder läuft.

© SZ vom 17.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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