Spiridon-Louis-Ring:Vom Wasserträger zum Nationalhelden

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Ein einziges Rennen hat der Grieche Spiridon Louis gewonnen, das hat ihm einen Platz in den Geschichts­büchern gebracht: Es war der olympische Marathon 1896 in Athen.

Von Nico Horn, München

"Von Sport wusste er gar nichts": Am 3. April 1896 nimmt Spiridon Louis vor einem euphorisierten Athener Publikum die Trophäe für den Olympischen Marathonsieg entgegen. (Foto: imago/ANE Edition)

Man kann nicht immer so genau sagen, wann ein Mensch von einem Sportler zu einem Helden wird. Ist es ein besonders ikonischer Moment, den man nicht vergisst? Oder sind es die Erfolge, die gewonnenen Titel? Bei Spiridon Louis weiß man es ganz genau: Er ist knapp 80 Jahre nach seinem Tod noch immer ein Nationalheld, weil er vor 123 Jahren einmal ein Rennen gewonnen hat. Natürlich nicht irgendein Rennen: Er gewinnt 1896 den Marathon bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit. Manchmal reicht es für die Legendenbildung, etwas als Erster zu schaffen, im perfekten Moment.

Für die Griechen gibt es damals bei Olympia nichts Größeres als diesen Marathon. Eine Nation berauscht sich an dem Mythos, der diesen Sport erschaffen hat. In Griechenland erzählen sie gerne die Geschichte vom Boten Pheidippides, der 490 v. Chr. nach der Schlacht bei Marathon die 40 Kilometer nach Athen gelaufen sei und dort erschöpft zusammenbrach. Wahrscheinlich ist das erfunden. Wenn überhaupt, lief Pheidippides viel weiter, nämlich nach Sparta (Distanz: 248 km) - und tot fiel er auch nicht um. Aber noch immer glauben viele an die Geschichte, weil sie schön heroisch ist. Also werden am 10. April 1896 wieder 40 Kilometer gelaufen, natürlich von Marathon nach Athen.

Spiridon Louis rennt nicht für sich, er rennt für eine ganze Nation. Griechenland hat in der Leichtathletik, dem olympischen Kern, bisher keine Silbermedaille gewonnen. Der Erste bekommt damals noch Silber statt Gold. Die Marathonläufer sollen die Zuschauer für das Scheitern der anderen Leichtathleten entschädigen. Sie wollen, müssen dieses Rennen gewinnen. 13 Griechen laufen gegen vier Ausländer.

Der Franzose, der Amerikaner und der Australier laufen los, als wäre das hier ein einfacher 800-Meter-Lauf. Bei der Hälfte des Rennens liegt Louis schon zwei Kilometer zurück. Dann muss der Franzose aufgeben, ungefähr zur selben Zeit der Amerikaner, sie sind noch nie so lange am Stück gelaufen. Louis überholt den ersten Landsmann, dann noch einen und noch einen. Die Griechen, die zu Tausenden entlang der Strecke stehen, beginnen zu hoffen.

Sie hoffen auf einen, aus dessen Geschichte die Werbebranche heutzutage eine wunderbare Heldeninszenierung stricken würde. Spiridon ist der Sohn eines Wasserkutschers, er bringt Wasser von seinem Heimatdorf Maroussi hinunter nach Athen. Vom Wasserträger zum Olympioniken - da kann selbst das amerikanische Tellerwäschermärchen nicht mithalten.

Louis läuft, weil es sein Beruf verlangt. Er macht Sport nicht zum Vergnügen, die Arbeit ist sein einziges Ausdauertraining. "Er war ein einfacher Mensch, von Sport wusste er gar nichts", erzählte sein Enkel vor einigen Jahren. Sein erstes Rennen läuft Louis kurz vor Olympia: den Ausscheidungslauf der Griechen. Es heißt, er habe den 16. Qualifikationsplatz als 17. verfehlt. Aber Oberst Papadiamantopoulos, unter dem er beim Militär gedient hat und der zufällig Rennleiter des Olympia-Marathons ist, habe interveniert. Louis darf zwei Wochen später der 17. Starter sein. Noch heute lieben alle, Werber, Publikum, Medien, solche Storys von siegenden Außenseitern.

Spiridon Louis auf einem Porträt, das ihn als älteren Mann zeigt. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Louis wird bis heute gefeiert, er hat natürlich eine Statue, Athens Olympiapark ist nach ihm benannt, dazu unzählige Rennklubs und ein paar Laufmagazine. Dabei kann man sich seinen historischen Sieg nicht mehr anschauen, es gibt keine Videos auf Youtube wie von sämtlichen großen Sportmomenten der vergangenen 50, 60 Jahre. Will man mehr über den damals 23-jährigen Louis wissen, muss man sich auf ein paar Bilder verlassen, die einen stattlichen Mann mit dunklem Haar und Schnauzer zeigen, und auf Erzählungen.

Laut einer dieser Anekdoten trinkt Louis - er hat sich inzwischen nach vorne gearbeitet - zehn Kilometer vor dem Ziel ein Glas Wein und versichert, dass er alle vor ihm liegenden Läufer noch überholen werde. Sein Enkel widerspricht dieser Erzählung - es sei ein Glas Cognac gewesen. Damals glaubt man noch an die leistungssteigernde Wirkung von Alkohol.

Jedenfalls liegt bald nur noch einer vor Louis, der Australier, der zuvor die 800 und 1500 Meter gewonnen hat. Aber dessen Kräfte sind längst aufgebraucht, er wird immer langsamer. Kurz nachdem ihn Louis überholt hat, kollabiert der Australier. Louis aber rennt als Erster in Richtung Athen. Schneller wird er nicht mehr, aber er hält durch. Die Zuschauer am Streckenrand treiben ihn an.

"Ich konnte mir nicht erklären, was in mir geschah, von jetzt an spürte ich nichts mehr, weder Hitze noch Schweiß noch Müdigkeit, es war so etwas wie ein Wunder", sagte Louis viele Jahre nach seinem Olympiasieg. Viele Marathonläufer kennen dieses Gefühl, wenn man die letzte Schmerzphase überstanden hat und sich mit letzter Kraft ins Ziel kämpft. Ein Gefühl der völligen Verausgabung, aber auch des Triumphs.

Der Münchner Spiridon-Louis-Ring führt von der Ackermannstraße über den Olympiasee, um Olympiastadion, -halle und -Eissportzentrum herum und endet neben der Lerchenauer Straße. (Foto: Florian Peljak)

Papadiamantopoulos reitet voraus ins Panathinaiko-Stadion und berichtet, dass ein Grieche führt. Die Zuschauer toben, ein Kronprinz begleitet ihn auf der finalen Stadionrunde. Die Menschen hätten Blumen und Hüte auf ihn regnen lassen, berichtete Louis. "In meiner Erinnerung erscheint es mir immer noch wie ein Traum." Königin Olga küsst ihm die Stirn.

Noch am selben Tag kehrt Louis zurück nach Maroussi. Einmal muss er wegen Urkundenfälschung für 13 Monate ins Gefängnis. Wirklich tragisch aber ist, dass er sich 1936 von den Nazis für deren Olympiapropaganda missbrauchen lässt. Als Symbol des Friedens überreicht er Hitler einen Olivenzweig. Olympiasieger, eingespannt von Autokraten und Diktatoren - kennt man heute leider auch noch.

Einen offiziellen Wettkampf hat Louis nach 1896 nie wieder bestritten. Zwei Stunden, achtundfünfzig Minuten und fünfzig Sekunden genügen ihm damals für den Marathonsieg. Eine Zeit, die heute viele gut trainierte Hobbyläufer ebenfalls schaffen - wenn auch eher ohne ein Glas Cognac. An diesem Dienstag findet im Münchner Olympiapark der traditionelle Silvesterlauf statt, die Strecke ist etwas kürzer, nur zehn Kilometer. Start und Ziel befinden sich am Spiridon-Louis-Ring.

© SZ vom 05.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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