Schützen:Olympiasieger-Besieger

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Tobias Heider von der HSG München hat zuletzt kaum trainiert, jetzt wurde er deutscher Meister - vor Christian Reitz

Von Julian Ignatowitsch, München

Ein gutes halbes Jahr hat Tobias Heider nicht mehr trainiert. "Null Komma null Prozent", sagt er. "Ich hatte die Pistole bis auf zwei Wettkämpfe gar nicht mehr in der Hand." Zu den deutschen Meisterschaften auf der Olympia-Schießanlage Hochbrück holte er sein Sportgerät mal wieder aus dem Schrank, ging an den Start - und gewann den nationalen Titel. Er lacht. "Das ist wirklich eine Überraschung und ein Riesenerfolg", sagt er. Zumal er Olympiasieger Christian Reitz hinter sich ließ. Zwar nicht an dessen Paradewaffe, der Schnellfeuerpistole, sondern mit der Luftpistole. So oder so darf er sich jetzt Olympiasieger-Besieger nennen. Sein Trainer Detlef Polter von der HSG München sprach ihn prompt mit diesen Worten an.

"Gleich die ersten 40 Schuss waren grandios", schildert Heider. Mit 387 Ringen legte er zu Beginn eine mehr als olympiareife Vorstellung hin. "Dann habe ich etwas abgebaut, was auch konditionsbedingt war, der Trainingsrückstand eben", erzählt er. Aber als Fünfter erreichte er das Finale und dort setzte er seinen Lauf fort und sich mit dem kleinstmöglichen Vorsprung von 0,1 Ringen (199,6 zu 199,5 Ringe) gegen Reitz durch. "Nervös war ich nicht, es war wie gegen jeden anderen Gegner", meint Heider.

"Die mentale Komponente ist beim Sportschießen extrem wichtig", erklärt Heider, "ab einem gewissen Niveau sind 90 Prozent Kopfsache." Bei ihm hilft anscheinend besonders: wenig Training. Da mache er sich keine Gedanken über die Technik, gehe ohne Druck in den Wettkampf. "Weniger ist bei mir mehr", sagt er. "Das habe ich schon vor ein paar Jahren gemerkt." Je weniger er sich bewusst mit den Vorgängen am Schießstand auseinandersetze, umso besser laufe es normalerweise. Bei Sportlern bezeichnet man einen solchen unbewussten Lauf, bei dem man instinktiv alles richtig macht, als "Flow".

Ist das trainingsfreie vergangene halbe Jahr Teil eines geheimen Plans auf dem Weg zur internationalen Spitze? Heider lacht wieder. Nein, er habe im Moment nur schlichtweg keine Zeit und keine Trainingsmöglichkeit. Der 28-jährige Polizeiobermeister macht gerade eine zweijährige Berufsfortbildung zum Kommissar, ähnlich einem Studium. Dafür lebt er in Brühl bei Köln, gut 600 Kilometer von seiner Heimatstadt Zwiesel in Niederbayern nahe der tschechischen Grenze entfernt. "Ich habe hier keinen Schießstand, an dem ich trainieren kann, und auch kaum Zeit", erklärt er. Mit dem Leistungssport hat Heider schon vor einigen Jahren abgeschlossen. Früher gehörte er zu den aussichtsreichsten deutschen Schießtalenten, war im Nationalkader und schoss auf Weltcups und Europameisterschaften, wo er 2008 Silber im Einzel gewann. Dann entschied er sich aber für den Beruf. Auch weil die Förderung im Pistolensport eine nervenaufreibende Angelegenheit ist. "Man muss bestimmte Zielvorgaben erfüllen, sonst fällt die Förderung weg." Für Heider kein praktikables Modell. "Der Druck war enorm", sagt er.

Eine Rückkehr in die Nationalmannschaft könnte er sich aber jetzt sogar wieder vorstellen. Die deutschen Luftpistolenschützen sind im Moment weit von der Weltspitze entfernt, bei den Olympischen Spielen durfte keiner an den Start gehen. "Der Bundestrainer hat mir erst mal nur gratuliert und sonst nichts weiter gesagt", erzählt Heider. Für DSB-Trainer Jan-Erik Aeply ist er eher keine Option - und auch mit seinem Vollzeit-Beruf wäre ein Engagement nur schwer zu vereinbaren.

Heider schießt vorerst weiter nur auf nationalen Wettbewerben, wie den bayerischen und deutschen Meisterschaften, und in der Bundesliga für die HSG München. "Er ist lockerer geworden, seit er nicht mehr im Nationalteam ist", sagt auch Vereinstrainer Polter, der ihn schon lange kennt. Polter plant für die kommende Saison, die im Oktober beginnt, fest mit seinem Schützling, der die sportliche Wundertüte in der Mannschaft ist. Im vergangenen Jahr hatte er extrem stark begonnen, dann aber genauso stark nachgelassen, so dass ihn der Trainer beim Finale gar nicht mehr einsetzte. "Jetzt geht es wieder von vorne los", so Polter. Skeptisch stimmt den Trainer nur der Reise- und Organisationsaufwand, den Heider aufgrund seines neuen Wohnorts an den Bundesligawochenenden in Zukunft bewältigen muss.

Die Distanz nach München hält Heider an diesem Dienstag auch davon ab, im zweiten Wettbewerb an der Sportpistole erneut um den nationalen Titel mitzuschießen. Stattdessen hat er Kurse in der Polizeischule. Er lacht. "Die Konkurrenz kann froh sein", sagt er. Und Training? "Keine Zeit". Daran wird sich so schnell nichts ändern.

© SZ vom 30.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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