Pferdesport:Koppeln mit Aussicht

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Der Hengst Waldgeist hat den berühmten Prix de l'Arc de Triomphe gewonnen. Er ist nicht der erste Sieger aus dem renommierten Gestüt Ammerland oberhalb des Starnberger Sees - ein Besuch.

Von Andreas Liebmann

Aus dem Bodennebel steigt eine Krähe in die Luft, wie aus dem Nichts flattert sie über die Köpfe der Namenlosen hinweg und verschwindet im Dunst. Die beiden Pferde auf der Koppel lassen sich davon nicht stören, sie blicken weiter unbeirrt auf den Boden mit dem saftigen Gras.

Kein Geräusch ist zu hören, nur Annabel von Boetticher sagt leise etwas über die dicken Bäuche der beiden und schmunzelt. Ob sie jemals Rennen laufen werden, ob sie dem Gestüt Ammerland vielleicht mal Millionen einbringen, ob sie verkauft werden, all das sind Entscheidungen, die noch weit vor ihren Besitzern liegen und von denen die beiden jungen Vollblüter nichts ahnen. Sie sind erst in diesem Jahr zur Welt gekommen, so genannte Absetzer, daher tragen sie auch noch keine Namen. Noch haben sie nichts anderes zu tun, als es sich hier gut gehen zu lassen.

Es ist schwer, sich in dieser ruhigen Idylle über dem Starnberger See das aufgeregte Treiben beim Prix de l'Arc de Triomphe in Paris vorzustellen, einem der prestigeträchtigsten Galopprennen der Welt. Doch dort hat vor vier Wochen eines der Pferde aus der Ammerlander Zucht Geschichte geschrieben. Der fünfjährige Waldgeist gewann das mit fünf Millionen Euro dotierte Rennen und verhinderte damit den Hattrick der hoch favorisierten Superstute Enable, die lange wie die sichere Siegerin ausgesehen hatte.

2 857 000 Euro bekam der Sieger, der zu drei Vierteln dem Gestüt Ammerland gehört und zu einem Viertel Andreas Jacobs und dem Newsells Park Stud. Gemessen an den reinen Zahlen, sagt die Geschäftsführerin des Gestüts, sei das schon "eine Sensation". Deutschland habe zwar durchaus interessante Stutenlinien, erklärt sie, aber der Pferderennsport sei hier doch eher "so eine Gentleman-Geschichte", ausgeübt "von ein paar Verrückten" - so könne man das zumindest als Außenstehender wahrnehmen. "Und durch den Fußball ist das in den vergangenen Jahren nicht besser geworden."

Freude über ein Millionenpreisgeld: Annabel und Dietrich von Boetticher mit Waldgeist in Paris. (Foto: imago)

In anderen Ländern sind die Rennbahnen ungleich besser besucht, die Umsätze daher ganz andere. In den USA etwa wird das Kentucky Derby bis heute live im Fernsehen übertragen. Inzwischen, erklärt Annabel von Boetticher, klage man selbst in Frankreich, England oder Irland über die schwindende Bedeutung ihres Sports, und doch gebe es dort noch Gestüte mit mehr als 400 Stuten. Sie selbst hätten ungefähr 25 bis 30. "Umso mehr erfreut uns so ein Ausrutscher."

Selbst im innerdeutschen Vergleich ist Bayern im Pferdesport alles andere als führend. Nichtsdestotrotz ist Waldgeist bereits der zweite Arc-Sieger aus Münsing-Ammerland. Der erste war Hurricane Run im Jahr 2005, auch wenn er damals "nicht für unsere Farben lief", wie Annabel von Boetticher sagt. Er war zuvor verkauft worden. Doch der Erfolg der Züchter bleibt.

Bei Waldgeist lief die Sache anders. Dessen Mutter Waldlerche steht im englischen Newsells Park Stud, als Vater war ein Hengst aus dem riesigen irischen Zuchtbetrieb Coolmore ausgewählt worden. Waldgeist hatte deshalb mehrere Besitzer. Foalsharing wird das genannt. Coolmore wollte seine Anteile irgendwann loswerden, "sie haben ihn unterschätzt". Das Ehepaar von Boetticher glaubte an ihn. Seitdem gehört Waldgeist zu drei Vierteln ihnen. Allerdings hat der Hengst nie die Weiden von Ammerland betreten. Mit knapp zwei Jahren wurde er zum französischen Trainer André Fabre geschickt, der viele aussichtsreiche Pferde des Gestüts anvertraut bekommt. Nun soll Waldgeist in die Zucht wechseln, seine Rennkarriere ist zu Ende. Auch als Deckhengst wird er wohl im Ausland bleiben. "In Bayern hätte das keinen Sinn", findet Annabel von Boetticher, die Zahl der Stuten sei nun mal zum Beispiel in Frankreich viel höher.

Angefangen hat die Erfolgsgeschichte vor mehr als 30 Jahren. Damals hatte der Rechtsanwalt Dietrich von Boetticher, heute Mitherausgeber der Abendzeitung, zwei Stuten gekauft und bald darauf einen jungen Hengst namens Luigi - eigentlich als Dressurpferd für den passionierten Freizeitreiter, der in Hannover aufgewachsen ist. Doch in Riem, wo Dietrich von Boetticher inzwischen Präsident des Münchener Rennvereins ist, stellte sich schnell die besondere Rennqualität des Pferdes heraus. Luigi gewann 1988 das Deutsche Derby. "Unser erster Sieger", sagt Annabel von Boetticher. Er entfachte damals jene Begeisterung, aus der heraus das heutige Gestüt entstand. Auf der Suche nach einer passenden Anlage stieß das Ehepaar durch Zufall auf jene 60 Hektar mit drei bayerischen Höfen aus dem ehemaligen Besitz von Konrad Albert Graf von Pocci, auf denen das heutige Gestüt liegt. "Dann ging die Bauerei los."

Das Gestüt Ammerland. (Foto: Frank Sorge/imago)

Den Besucher des Gestüts empfangen am Tor zwei Rauhaardackel, ein verspielter Weimaraner namens Brandy und eine Schar bayerische Landgänse, die ihren Job als Bewacher mit lautem Geschnatter etwas ernster nehmen als die drei Hunde. Ein großes Baumhaus im Garten erinnert an die inzwischen erwachsenen Kinder. Seit 26 Jahren führt Annabel von Boetticher, eigentlich Historikerin, den Hof. Auch sie sei schon als Kind geritten, erzählt sie, zu Rennpferden wäre sie ohne ihren Mann aber wohl nicht gekommen. Im Büro hängen die gerahmten Bilder der bislang erfolgreichsten Pferde ihrer Zucht. Iquitos ist zu sehen, der Galopper des Jahres 2016, der wegen seiner geringen Größe immer als Publikumsliebling galt. Luigi natürlich, Lope de Vega, der Sieger des französischen Derbys. Hurricane Run. Boreal und Borgia, beide Derby-Sieger. "Borgia war bei uns immer der Liebling, die ist hier auch im Garten herumgelaufen", erzählt Annabel von Boetticher.

Inzwischen haben sie ein zweites Gestüt in Bernried, auf der anderen Seeseite. Man habe mehr Platz gebraucht. Die Flächen dürften nicht überweidet werden, auch sei eine räumliche Trennung wichtig, falls mal ein Virus eingeschleppt werde. Nun also wird in Bernried viel gebaut. Dietrich von Boetticher, 77, kümmert sich vorrangig um die dortigen Großprojekte.

Den traumhaften Blick von den Koppeln über den See und in die Berge muss man sich an diesem nebligen Herbstmorgen einfach dazu denken. Kaufinteressenten aus dem Ausland kämen oft an solchen Tagen vorbei, erzählt die Geschäftsführerin. Sie habe dann Mühe, die Experten davon zu überzeugen, dass die idyllischen Fotos auf der Webseite nicht manipuliert seien.

Ob die beiden namenlosen Absetzer einmal erfolgreich werden, kann niemand vorhersehen. Erst einmal spielen sie auf der Koppel. Im kommenden Frühjahr werden die Mitarbeiter allmählich beginnen, ihnen Handling zu vermitteln, Schrittarbeit zu machen, im Sommer stehen dann all die schweren Entscheidungen an: Behalten oder verkaufen? Sie nach Riem zu John Hillis geben, zu Peter Schiergen nach Köln, oder doch ins Ausland, etwa zu André Fabre? "Alle ins Training zu schicken, ist unmöglich", sagt Annabel von Boetticher, "die Frage ist immer, wie viel Hoffnung man in das jeweilige Pferd setzt." Da gehe es um Bauchgefühl, um Pferdeverstand, um das Herdenverhalten, um Herkunft, Statur und Gesundheit der Pferde; man schaue sich natürlich die Erfolge der Geschwister an. "Der Horror ist immer, dass man die Falschen verkauft", sagt sie.

Und dann gehe es um die Kunst der Trainer, die richtigen Anlagen zu erkennen, zu wissen, ob sie es mit Sprintern oder mit Pferden für die klassischen 2400 Meter zu tun hätten, die richtigen Jockeys zu wählen. Waldgeist zum Beispiel hatte stets denselben jungen Reiter, doch es gibt andere Jockeys, die auch ihnen völlig unbekannte Tiere zu Siegen führen. "Das sind richtige Genies", findet Annabel von Boetticher. Man muss die Tiere gut behandeln, um möglichst lange etwas von ihnen zu haben, ihnen aber auch vermitteln, dass Gewinnen etwas Schönes sei. "Es bringt ja keinem was, wenn ein Pferd ständig gesund hinterherläuft." Und natürlich bekommen die Tiere irgendwann Namen, meist angelehnt an die ihrer Mutter, mit denselben Anfangsbuchstaben. Die Direktion für Vollblutzucht muss jeden einzeln absegnen, das sei oft gar nicht einfach.

Waldgeists 2,9 Millionen Preisgeld für nur ein Rennen, 4,3 Millionen für seine ganze Karriere klingen horrend, doch eine rentable Art des Geldverdienens sei eine Zucht trotzdem nicht, versichert die Geschäftsführerin. Es gebe gute und schlechte Jahre, in denen der Betrieb sich nicht immer selbst trage. Hinter dem Triumph von Waldgeist stünden auch all die vielen Pferde, die nichts gewinnen, die nicht teuer verkauft werden und die nie gerannt sind. Die allerschlechtesten Aussichten haben aber wohl auch die beiden namenlosen Absetzer nicht. Selbst wenn der Nebel sich an diesem Tag nicht mehr verziehen wird.

© SZ vom 31.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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