Paralympischer Sport:Wettlauf mit dem eigenen Schatten

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Vom ersten Moment an ein Vertrauensverhältnis: Sebastian Roob (re.) und sein Begleitläufer Karim Bartsch. (Foto: privat/oh)

Beim PSV München trainieren blinde Leichtathleten - und immer mit ihnen deren ständige Begleiter.

Von Brigitte Mellert, München

Wenn Karim Bartsch neben Sebastian Roob niederkniet, muss er sich wie ein Schatten verhalten. Die Handrücken der beiden jungen Männer sind mit einem Band aneinander geschnürt. Sobald Roob, der etwas Ältere, seinen Arm nach vorne reißt, muss auch Bartsch reagieren. Im selben Sekundenbruchteil stoßen sich beide kräftig aus den Startblöcken ab, fast als wären sie eine Person. Das sind sie natürlich nicht: Sebastian Roob, 20, ist der Athlet. Karim Bartsch, 17, sein Begleitläufer.

Samstagmorgen, Postparkstadion im Münchner Westen. Hier trainieren die Leichtathleten von der Blindensportabteilung des Post-Sportvereins München (PSV). Die Sprinter Roob und Christoph Sailer, 22, sind die aktuellen Aushängeschilder der Abteilung. Beide können ihre Umwelt von Geburt an nur in Umrissen erkennen. In der Startklasse T12 streben sie im Parasport Erfolge an. Auch Sailer hat einen Begleitläufer, Luka Faltermeier, 16.

Die Augen des anderen zu sein, sei eine schöne Verantwortung, findet Karim Bartsch

Unangenehm kalt ist es auf der Laufbahn, der Wind bläst immer wieder unter die Kleidung. Um Verletzungen vorzubeugen, wärmen die Sportler sich daher lange auf. Im Stadion findet gerade ein Fußballspiel statt, deshalb müssen die Begleitläufer auch dabei schon die Führung übernehmen. Würde ein Ball aus dem Spielfeld rollen, wäre die Verletzungsgefahr für die Läufer sonst zu groß, erklärt Trainer Harald Wiesmann. Obgleich beide noch Teenager sind, strahlen die Begleitläufer Ruhe aus, übernehmen selbstbewusst die Führung. Kurz stimmen sie sich ab: "Mit welchem Fuß starten wir?" Schon laufen sie im seitenverkehrten Gleichschritt los. "Es ist eine schöne Verantwortung", beschreibt Karim Bartsch das Gefühl, "die Augen" von Sebastian Roob zu sein. Vom ersten Moment an hätten sich beide gut verstanden, es habe sich sofort ein Vertrauensverhältnis gebildet. Trotzdem musste sich der Teenager an die Verantwortung erst gewöhnen. Aus Unachtsamkeit habe er Roob anfangs versehentlich gegen Stufen laufen lassen. Heute passiere ihm das nicht mehr. "Wir sind sehr zufrieden mit den beiden", lobt Abteilungsleiterin Anne Heinzl die jungen Begleiter. "Wir können uns voll auf sie verlassen." Doch wünscht sich ein junger Athlet nicht, selbst Erfolge zu feiern? Als Begleitläufer muss Bartsch schneller laufen können als Roob, um währenddessen noch Anweisungen geben und die Stabilität halten zu können. "Ich passe mich ihm an", beschreibt er seine Aufgabe. Das Gefühl, ein Team zu bilden, mache für ihn den Reiz des Blindensports aus. Karim Bartsch ist auch selbst als Sprinter aktiv, er war mal Zweiter der Münchner Meisterschaften, doch die eigenen Wettkämpfe könne er nebenher laufen. Er will sich auf den Blindensport konzentrieren, auch weil hier die Medaillenchancen und der Ausblick auf eine internationale Karriere höher seien. Trainer Wiesmann nickt und ergänzt: "Ausgereizte Sprinter haben im Blindensport die Möglichkeit auf eine zweite Karriere." Dadurch erhofft er sich, auch Kaderathleten für den Behindertensport zu begeistern. Anne Heinzl trainierte blinde Athleten Jahrzehnte lang als Bundestrainerin. Heute ist sie Rentnerin. Sie ist sehr dankbar für die Unterstützung durch Karim Bartsch, den sie vor zwei Jahren angesprochen hatte, und dessen Kumpel Luka Faltermeier, der erst vor Kurzem dazustieß. Im Gespräch merkt man ihr die jahrelange Erfahrung als Trainerin an, der Umgang mit den Athleten ist herzlich, aber bestimmt: "Ich kann sie ja nicht alleine lassen." Ihre Worte zeigen den Unmut über die Trainingsumstände. Es sei schwierig, "geeignete Begleitläufer zu finden, die schnell genug sind".

Sind die Guides nicht schnell genug, können auch die Athleten ihr Potenzial nicht ausspielen

Roob und Sailer, über 100 Meter Erster und Zweiter der bayerischen Meisterschaften 2016, haben sich inzwischen aufgewärmt, sie machen nun Steigerungsläufe. In Begleitung, aber ohne Bänder an den Händen. Beide bewegen sich sehr sicher, setzen kraftvoll ihre Schritte auf der Bahn. Das liege an der gewohnten Umgebung, erklärt Heinzl, im Alltag seien die Athleten auf Blindenhund und Stock angewiesen.

Bis vor einigen Jahren war Raphael Marks hier Trainer und Begleitläufer. Als er wegen seines Lehrerberufs keine Zeit mehr hatte, musste die Abteilung neue Lösungen finden. Mehrere Jahre arbeitete sie mit Guides aus Halle zusammen, was auf Dauer zu teuer wurde. Heinzl ist unzufrieden mit den vielen Wechseln. Ohne passende Begleiter könnten die Athleten nicht ihr "volles Potenzial ausspielen". Eigentlich hatten Roob und Sailer mal geplant, Rio de Janeiro anzupeilen, zurzeit konzentrieren sie sich auf ihre Ausbildungen. Sailer nennt die Paralympics in Tokio 2020 als neues Ziel, dafür müsste er aber einige Sekunden schneller werden. Roob ist unsicher: Vielleicht wolle er als Physiotherapeut und Trainer arbeiten. Oder es auf der 800-Meter-Strecke probieren. Das hieße freilich: Auch sein Guide müsste auf die Mitteldistanz wechseln - oder ein neuer gesucht werden.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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