Leichtathletik-WM in London:"Wenigstens nicht Letzte"

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„Immer bis zum Letzten kämpfen, bis ins Ziel“: Christina Hering bei der WM in London. (Foto: Sebastian Wells/Imago)

Realismus siegt: Die Münchnerin Christina Hering schafft es nach einer schwierigen Saison ins Halbfinale über 800 Meter. Zuvor versuchte sie wochenlang, die Zeit zur WM-Nominierung zu laufen.

Von Joachim Mölter, London

Wochenlang war die 800-Meter-Läuferin Christina Hering einer imaginären Gegnerin hinterhergerannt, einer Zeit, die der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) als Voraussetzung für die WM-Nominierung gesetzt hatte - 2:01,00 Minuten. Als Hering diese Gegnerin endlich überholt hatte, in 2:00,77 Minuten Mitte Juli in Bellinzona, war das Rennen im Grunde längst vorbei - die Nominierungsfrist war abgelaufen. Doch der DLV zeigte sich gnädig und nominierte die Münchnerin nach. In London durfte Christina Hering realen Gegnerinnen hinterherrennen, zweimal sogar - im Vorlauf und im Halbfinale.

"Wenn man realistisch ist, bin ich nicht angereist, um ins Finale zu kommen", bilanzierte die 22-Jährige: "Aber ich glaube, ich habe meine Nominierung gerechtfertigt. Und ich bin dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, hier zu starten. Es war ein tolles Erlebnis." Eines, das "Lust auf mehr" mache, wie sie sagte, von dem sie viel Motivation für die Zukunft mitnehme, für die Europameisterschaften 2018 in Berlin zum Beispiel. "Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr noch was drauflegen und die Erfahrungen von hier mitnehmen kann", sagte sie.

Die wichtigste Erfahrung war wohl eine, die sie sowieso schon gesammelt hat während dieser Saison: immer weiterlaufen, nicht aufgeben, auch wenn das Rennen gegen imaginäre und reale Gegnerinnen schon verloren zu sein scheint.

Während Hering am Donnerstag auf ihren Einsatz wartete, beobachtete sie "interessante Vorläufe", andere als bei der WM 2015 in Peking oder Olympia 2016 in Rio, wo sie schon dabei war. "In Rio waren 2:00 Minuten nötig, um weiterzukommen", erinnerte sie an die schnellen Rennen vor einem Jahr: "Heute waren sie viel taktischer. Ich habe Glück gehabt, in einem schnellen Lauf zu sein."

Die deutsche Meisterin von der LG Stadtwerke war im letzten der sechs Vorläufe eingeteilt, die Athletinnen wussten also, dass sie besser mal aufs Tempo drücken. Aus jedem Lauf kamen nur die ersten Drei sicher weiter, dazu noch die insgesamt sechs schnellsten Läuferinnen. Aus Herings Vorlauf schafften es gleich vier Starterinnen über die Zeitregel in die nächste Runde, darunter war sie, als Fünfte in 2:01,13. "Auf der Zielgeraden war mir klar, dass es nicht mehr für die ersten Drei reicht", erzählte sie, "da ist mir der Spruch eingefallen: immer bis zum Letzten kämpfen, bis ins Ziel."

Nächster Start: Universiade. "Ich hoffe, dass ich zeigen kann, was wirklich in mir steckt."

Das tat die von Daniel Stoll und Andreas Knauer trainierte Läuferin zwar auch anderntags im Halbfinale. Doch da war ihr die Konkurrenz schon zu weit enteilt. "Ich wusste, dass das Tempo ab 400 Meter abgeht, aber ich konnte nicht so schnell umschalten", sagte die 1,85 Meter große Frau: "Vielleicht liegt es an meiner Größe, dass ich mir schwer tue, vom einen auf den anderen Moment zu beschleunigen." Vielleicht, räumte sie ein, sei es auch bloß eine Kopfsache, müsse sie sich nur trauen, die Angst vor der Laktat-Anhäufung in den Muskeln zu überwinden, die so eine Tempoverschärfung während des Rennens unweigerlich nach sich zieht. Wie auch immer: Nach 2:02,69 Minuten war die WM zu Ende für Christina Hering. "Ich bin total zufrieden", versicherte sie, "ich wollte wenigstens nicht Letzte werden." Zumindest die Südafrikanerin Gena Löfstrand hatte sie hinter sich gelassen.

Nun hat Hering noch die Universiade in Taipeh vor sich, die Studenten-WM. Da läuft sie wieder einer imaginären Gegnerin hinterher, ihrer Bestzeit von 1:59,54. "Ich hoffe, dass ich zeigen kann, was wirklich in mir steckt", sagte sie vor dem Abflug aus London: "Mal schauen, wie in Taipeh die Bedingungen und das Feld sind."

© SZ vom 14.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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