Kunstradfahren:Ein Sofa voller Emotionen

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Nur Fliegen ist schöner: Steinhörings Vierer in Bestform. Julia Dörner (von links) und Annamaria Milo holen in Lüttich ihren ersten WM-Titel, Katharina Gülich und Ramona Ressel hatten damit schon Erfahrung. (Foto: Wilfried Schwarz)

Der Vierer des RSV Steinhöring ist nach zweijähriger Pause wieder Weltmeister geworden. Dabei war das Quartett im Frühjahr erst völlig umgekrempelt worden - und die Schweiz galt als haushoher Favorit.

Von Andreas Liebmann, Lüttich/Steinhöring

Wäre da nur ein bisschen Platz gewesen für Genugtuung oder gar Häme, sie hätten es so leicht gehabt. Sie hätten nur rufen müssen: "Wer hat's erfunden?!" - natürlich mit breitem schweizerischem Akzent und noch breiterem Grinsen. Schließlich war der Kunstradvierer des RSV Steinhöring zwischen 2001 und 2015 sieben Mal Weltmeister gewesen, drei weitere WM-Titel waren in dieser glorreichen Zeit an andere deutsche Formationen gegangen. Vor zwei Jahren aber kam dieses aufmüpfige Quartett aus der Schweiz daher, raubte den vier erfolgsverwöhnten jungen Frauen aus dem Landkreis Ebersberg ausgerechnet bei der Heim-WM in Stuttgart ihren gewohnten Titel, wehrte im Jahr darauf auch noch recht souverän deren Versuch ab, ihn sich zurückzuholen, und als Steinhörings Vierer einen Weltrekord aufstellte, überbot es diesen sogar noch in derselben Veranstaltung.

Nun hat sich der RSV nach zweijähriger Pause seinen Weltmeistertitel zurückholt. Doch für Häme war kein Platz in Lüttich, in einer fast ausverkauften Halle, in die immerhin 2700 Leute passen. Denn die Kunstrad-Szene begreift sich als große Familie. Die Konkurrenz ist nicht übermäßig groß, weshalb Steinhörings Cheftrainerin Irmtraut Wirth seit vielen Jahren anderen Nationen Nachhilfe gibt. Und so litten die vier Steinhöringerinnen dann tatsächlich kräftig mit, als ihre Konkurrentinnen patzten.

"Nach drei Minuten hat man gemerkt, dass sie ein bisschen unruhig werden", erzählte Katharina Gülich. Beim Kunstradfahren läuft das so, dass die Formationen der Stärke ihrer eingereichten Küren nach antreten, die Besten zum Schluss. Die jeweils Führenden dürfen nach vollbrachter Leistung neben der Veranstaltungsfläche auf einem Sofa Platz nehmen. Beim Start der Schweizerinnen saßen also die Deutschen auf der Couch. "Wir waren total entspannt und haben uns gefreut", erzählte Gülich, denn sie hatten mit 216,76 Punkten soeben ihre Bestleistung eingefahren.

Man muss zurückblicken, um all das richtig einzuordnen. Vor einem Jahr hatte Steinhörings Vierer nach der missglückten WM-Titel-Rückholaktion im österreichischen Dornbirn vollzählig aufgehört, die nächste Generation im eigenen Klub stand schließlich bereit - immerhin die Jugendeuropameister von 2017. Auch Gülich absolvierte daher nach fünf WM-Titeln ihre letzte große Fahrt, für die es Silber gab. Die 28-Jährige wollte als Trainerin weitermachen. Dann aber fielen zwei der vier Neuen aus ("ein Engpass"), also trat im Frühjahr erst Ramona Ressel vom Rücktritt zurück, dann Gülich - und begann mit Julia Dörner und Annamaria Milo, die sie zuvor trainiert hatte, ein gemeinsames Programm einzuüben. "Wir waren selbst überrascht, wie schnell wir zusammengefunden hatten", berichtete Gülich. "Irgendwann lief es fast von allein, wir können uns das selbst nicht erklären." Im Sommer gewannen sie die neu eingeführte Elite-Europameisterschaft (dort hatte überraschend das zweite Schweizer Quartett gepatzt), und seit September reicherten sie ihr aktuelles Programm um immer mehr Schwierigkeiten an. Und all die hatten sie nun am Freitagabend auf den Punkt abgerufen.

Die eingereichte Kür der Favoritinnen war dennoch um neun Punkte hochwertiger, die Titelverteidigerinnen mussten sie also nur noch sauber nach Hause fahren.

Ressel und Gülich konnten sich auf dem Sofa bestens in das hineinfühlen, was dann geschah. Denn diesmal hatten die Schweizerinnen angekündigt, dass dies ihre letzte Fahrt vor dem Karriereende sein würde. Natürlich hegten sie die Hoffnung auf einen Hattrick. In der vierten Minute aber blieben zwei Fahrerinnen beim Durchqueren eines Tors mit den Rädern hängen, eine musste absteigen. Das brachte alle vier in Zeitnot, eine weitere Übung passte nicht mehr in die vorgegebenen fünf Minuten. 204,93 Punkte. Zu wenig. "Wir waren fassungslos", erzählte Gülich vom Gefühlschaos auf der Couch. "So was wünscht man keinem. Wir haben geweint und uns gefreut." Und nach der anschließenden Doping-Probe natürlich kräftig gefeiert.

Nun also hat sich das Schweizer Quartett mit WM-Silber in der Ruhestand verabschiedet. Und Gülich will wieder Platz machen für die junge Rückkehrerin Anna-Lena Vollbrecht. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt.

© SZ vom 26.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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