Fußball mal ganz anders:Kopfkino auf Kunstrasen

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Das erste interaktive Fußballhörspiel in München ist ein experimenteller Genuss: Die Teilnehmer erleben den 70er-Klassiker Wuppertaler SV gegen FC Bayern neu.

Von Oliver Götz, München

Es gibt Dinge, die scheinen unvorstellbar. Beispielsweise, dass anstelle der Isar die Wupper durch München fließt. Was nun folgt, ist jedenfalls etwas für fußballverrückte Schwärmer mit ausgeprägter Affinität zum Kopfkino.

Es ist Freitagabend, am Rande der Münchner Bezirkssportanlage Fehwiesenstraße versucht sich eine Gruppe von Menschen vorzustellen, wie sich die Wupper durch die Landeshauptstadt schlängelt. Es handelt sich um 15 der Winterkälte trotzende Teilnehmer des ersten interaktiven Fußballhörspiels in München. Initiiert hat es das Fanprojekt Wuppertal in Kooperation mit dem Fanprojekt München.

Via Headsets hören sie Radio Lora. Seit 19 Uhr überträgt der Münchner Sender das legendäre Spiel zwischen dem Wuppertaler Sportverein und dem FC Bayern München aus dem Oktober 1972 im Hörspielformat. Damals war das erste Aufeinandertreffen der beiden Klubs ein echter Bundesligakracher. Mehr als 40 000 Zuschauer pilgerten ins Stadion am Zoo, die Heimspielstätte des WSV. Dorthin, wo die Wupper tatsächlich nah vorbeifließt. Es war das Duell zwischen dem erfolgreichsten Aufsteiger und dem deutschen Meister, das Aufeinandertreffen zweier Torjäger, deren Rekorde bis heute unerreicht sind. Der WSV war mit 111 Toren in die Bundesliga gestürmt, 52 davon erzielte Günter Pröpper. Der FC Bayern hatte derweil den Ligarekord von 101 Toren in einer Saison aufgestellt - 40 davon gingen aufs Konto von Gerd Müller.

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(Foto: Horstmüller/imago)

Original und Fälschung: Hier reichen sich die Kapitäne Manfred Reichert (links, Wuppertal) und Franz Beckenbauer vom FC Bayern die Hände.

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(Foto: Claus Schunk)

Und hier Regisseur Michael Uhl (ganz rechts) und einige der Teilnehmer seines Hörspiels.

Zurück im Hier und Jetzt, hat die Gruppe der imaginären Wupper den Rücken gekehrt. Die Mannschaften wurden eingeteilt. Jetzt geht es raus auf den Kunstrasenplatz. Oder unter dem Jubel der 40 000 rein ins Stadion des WSV - je nach eigener Vorstellungskraft. Mit zunehmender Spieldauer wird diese immer stärker. Man muss ja erst mal reinkommen in so eine Partie. Ohne Ball. Abwechselnd knistern Bewegungsanweisungen sowie Geschichten ehemaliger Spieler und Zeitzeugen im Headset. Dazu kommen Ausschnitte aus dem Live-Kommentar von damals. Den Radioreporter Günther Koch auf dem Ohr, allein das entschädigt für frierende Füße.

Fünf Monate lang hat Michael Uhl, der Autor und Regisseur der Collage, Stimmen eingefangen, mehr als 35 Stunden an Interviewmaterial zusammengetragen. Die O-Töne herauszufiltern sei "ein wahnsinniges Geschäft" gewesen, sagt er. "Aber auch eine hoch spannende Arbeit." Der Aufwand hat sich gelohnt. Uhl hat einen atmosphärischen Rückblick voller Nahaufnahmen geschaffen. Er informiert und begeistert gleichermaßen. Wer sich einlässt auf diese so originelle wie kuriose Hörspielidee, der fühlt sich schnell, als stünde er wirklich auf dem Rasen im Stadion am Zoo.

Johnny Hansen ist für die Münchner am Ball. (Foto: Werek/imago)

Ein Teilnehmer steht als Dieter Lömm auf dem Platz, was ihn fast ein wenig ärgert. Nicht, dass ihm Lömm, damals eine Art hängende Spitze des WSV, nicht gut genug gewesen wäre. Aber einmal Gerd Müller, Uli Hoeneß oder Sepp Maier sein, dazu hätte es jetzt doch die einmalige Chance gegeben. Immerhin kann man als Dieter Lömm das ganze Hörspiel lang über den Platz laufen. Das Überallsein war damals nämlich dessen Markenzeichen. Und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ist das wirklich eine sympathische Rolle. Die Tore erzielen dafür andere. Jürgen Kohle für den WSV kurz nach der Halbzeit, Bernd Dürnberger für den FC Bayern zehn Minuten vor Ende der Partie. Das Spiel endet 1:1. Für den WSV ein historischer Erfolg.

Auf dem Platz an der Fehwiesenstraße können sich nun beide Teams freuen. Nach kurzem Abklatschen geht es wieder rein ins Warme. Hängen bleibt viel mehr als ein kultureller Fußballleckerbissen. Denn Michael Uhl hat mit seinem Hörspiel auch ein soziales Erlebnis geschaffen, das Menschen zusammenbringt. "Eine tolle Idee", findet Thomas Emmes vom Fanprojekt München. "Nur, dass der FC Bayern sich daran leider gar nicht beteiligen wollte, da haben wir uns etwas geärgert."

Traf in der Saison 1972/73 sowohl beim 1:1 im Hinspiel als auch beim 1:4 im Olympiastadion für den Wuppertaler SV gegen die Bayern: Jürgen Kohle. (Foto: Fred Joch/imgao)

In Wuppertal sei "die Stimmung zurzeit etwas grau", erzählt der dortige Fanprojekt-Mitarbeiter Nico Klinkert. Der Verein dümpelt in der vierten Liga, die glorreichen Zeiten sind lange vorbei. "An das Spiel von damals erinnert sich aber noch jeder." Am Originalschauplatz in Wuppertal wurde das Hörspiel schon dreimal aufgeführt. Die Stiftung "PFiFF" der Deutschen Fußball Liga hat es finanziell gefördert. Zu erleben, wie sich Menschen "durch Zauberhand und nur durch ein Hörspiel gelenkt" bewegen, das sei schon etwas ganz Besonderes, sagt Regisseur Michael Uhl. Nur das mit der Wupper in München, das bleibt wirklich schwer vorstellbar.

© SZ vom 10.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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