Dülferstraße:Virtuosen im Fels

Lesezeit: 4 min

Hans Dülfer hat mit Werner Schaarschmidt das Klettern mit neuen Techniken und vielen Erstbegehungen geprägt.

Von Thomas Becker, München

Nach schroffen Felswänden und anspruchsvoller Kletterei sieht es weder im Hasenbergl noch in Feldmoching aus, und dennoch führt eine Straße von einem ins andere Viertel, die nach einem der bedeutendsten Münchner Kletterer benannt ist: Hans Dülfer. Ein Münchner Kindl ist er nicht, stammt er doch aus Barmen (das 1929 mit vier anderen Nachbarstädten zu Wuppertal wurde). Nur wenige Jahre lebte Dülfer in München, doch in dieser Zeit hat er in seinem Sport derart Aufsehen erregt, dass die Fachleute ausnahmslos in die Schublade mit den ganz großen Buchstaben langen, wenn sie ihn beschreiben sollen. Nicholas Mailänder, in den 90er-Jahren beim Alpenverein im Referat Klettern und Naturschutz tätig und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte des Bergsteigens und Kletterns, sagt über Dülfer: "Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass das moderne Klettern entstanden ist."

Und das kam so: Vater Dülfer, ein Kaufmann, nahm seinen Sohn 1907 als 15-Jährigen mit zum Wandern ins Allgäu - ohne zu wissen, was er da bei seinem Junior auslösen sollte. Drei Jahre später unternehmen sie gemeinsame Bergtouren in der Silvretta - und schon im Jahr darauf zieht der Sohnemann nach München, zum Studium. Erst Medizin, dann Jura, schließlich Philosophie. Er tritt dem Alpenverein bei, zunächst der sogenannten Akademischen Sektion, später der Sektion Bayerland. Geld hat er keins, näht sich aus Leinen und blauem Militärtuch Fleckerlsohlen für die Kletterschuhe. Vor allem das Tiroler Kaisergebirge und die Rosengartengruppe in den Dolomiten haben es ihm angetan. Totenkirchl, Predigtstuhl und Vajolet-Türme sind seine Lieblingsberge. Den Bozongkamin am Predigtstuhl durchsteigt er in einem Sommer 17 Mal. In vier Jahren gelingen ihm rund 50 Erstbegehungen, darunter die bergsteigerischen Spitzenleistungen seiner Zeit. 1911 durchklettert Dülfer den nach ihm benannten Kamin am Totenkirchl, einem der berühmtesten Kletterberge der nördlichen Kalkalpen. Im Jahr darauf gelingt ihm ganz in der Nähe mit der ersten Erkletterung der sogenannten Fleischbank-Ostwand sein wohl größter Erfolg. Einer, der ihn bis zum Lebensende begleiten sollte. Davon später mehr. Bekanntheit erlangte Hans Dülfer als ausgezeichneter Felskletterer.

Hans Dülfer galt als bester Kletterer seiner Zeit, der durch seine Eleganz beeindruckte und eine eigene Abseiltechnik (li.) erfand. Oft kletterte er zusammen mit seinem Freund Werner Schaarschmidt. (Foto: Wikipedia)

Als bahnbrechend gilt er auf dem Gebiet der Sicherungs-, Seil- und Klettertechnik. Die von ihm erdachten Seilquergänge ("schiefes Abseilen") ermöglichten das Überwinden von frei nicht kletterbaren Wandpartien. Auch eine Abseilmethode ist nach ihm benannt: der Dülfersitz. Der junge Mann profitiert jedoch von der Idee eines anderen Kletterers: Otto Herzog, Spitzname Rambo. Der Münchner setzte als Erster den Schnappkarabiner, der bis dahin nur als Feuerwehrgerät üblich war, zur Sicherung ein. "Die technische Entwicklung war die Voraussetzung für Dülfers Taten", erklärt Nicholas Mailänder, "bis dahin war der Einsatz von Haken, Seil und Karabinern zur Sicherung nicht üblich." Schon damals diskutierte man in der Kletterszene, was als Hilfsmittel am Fels erlaubt sein sollte und was nicht. Dülfers Zeitgenosse Paul Preuß aus Altaussee zum Beispiel postulierte: "Der Mauerhaken ist eine Notreserve und nicht die Grundlage einer Arbeitsmethode." Er stürzte im Oktober 1913 an der Mandlkogel-Nordkante tödlich ab; Dülfer soll der Wochenzeitung "Dolomiten" zufolge am Grab geweint haben.

Überhaupt war Dülfer, der am Fels so energisch sein konnte, ein offenbar sensibler Mensch, galt als hervorragender Pianist. Folgende Sätze sind von ihm überliefert: "Es ist seltsam, dass die Mehrzahl derer, die im Gebirge klettern, nur das eine kennen: von einem Gipfel zum anderen zu jagen, möglichst vielerlei, nicht möglichst viel heimzubringen. Sind diese Bergsteiger nicht wie jene Dilettanten am Klavier, die oberflächlich, ohne jedes Vertiefen in etwas Erhabenes, bald dieses, bald jenes Kunstwerk anfassen?" Kletter-Fachmann Fritz Schmitt beschrieb Dülfer einmal so: "Kein robuster, athletischer Typ, kein Draufgänger, sondern ein stiller, geistig orientierter Mann, groß und schlank, feinnervig, beherrscht und von bewundernswerter Zielstrebigkeit." Ein anderer schwärmte: "Er war wohl der beste Kletterer seiner Zeit, der über alle sportlichen Grundlagen verfügte. Er schuf einen erhabenen Stil, dem Eleganz, Ernst und Schönheit nicht abzusprechen waren." Und wieder ein Anderer sagte: "Dülfer war eine Klasse für sich, trotz seiner Jugend kein Stürmer, kein Blender. Ihn zeichneten seine Vorsicht, eine Ruhe und Überlegung bei der Felsarbeit aus, die fast ohne Beispiel dastehen." Ein Seilkamerad meinte gar: "Er klettert nicht, er streichelt den Fels."

Auf Münchens Wegen verewigt: Nach Werner Schaarschmidt und Hans Dülfer und wurden in München Straßen benannt. (Foto: Florian Peljak)

Dülfer selbst sah das pragmatisch: "Wo Risse sind, kommt man rauf!" Ein Seilkamerad berichtete: "Ich habe Dülfer nie schnaufen gehört, auch im anstrengendsten Riss nicht. Er ist stets gestanden, nie gehangen." Werner Schaarschmidt bestätigte das: "Dülfers stärkste Seite war das Rissklettern mit Verklemmen eines Armes und Beines." Dieser Schaarschmidt, dem im Münchner Norden ebenfalls eine Straße gewidmet ist (eine kaum hundert Meter lange Querstraße, die die Dülferstraße kreuzt), begleitet Hans Dülfer auch bei der Erstbesteigung der besagten Fleischbank-Ostwand. Drei Anläufe brauchen sie vom Stripsenjochhaus aus, beim zweiten saust der Rucksack samt Reserveseil, Hammer, Mauerhaken und Proviant in die Tiefe. Am 15. Juni 1912 ist es endlich geschafft.

Euphorisiert reist Dülfer für acht Wochen in die Dolomiten und erklettert dort 64 Gipfel, einige mit Schaarschmidt, aber am liebsten allein. Vor allem die Larsec-Gruppe hat es ihm angetan, deren Erschließung er 1914 beenden will. Am 1. August glückt ihm an der Südwand der Cisleser Odla seine letzte Erstbesteigung. Nach Kriegsausbruch meldet Dülfer sich als Freiwilliger, reist von der Regensburger Hütte in den Grödener Dolomiten ab - und landet an der Westfront, bei Arras. Im Jahr darauf schreibt er während der Lorettoschlacht nach Hause: "Übermorgen, am 15. Juni, ist das Jubiläum der Fleischbank-Ostwand. Ich rauche zur Feier aus der Pfeife, die mir damals im Rucksack die halbe Wand hinuntergepurzelt ist." An besagtem Tag stirbt er im Schützengraben. Sein Vater schrieb an die Sektion: "Als vorgeschobener Einzelposten hielt Hans im schärfsten Artilleriefeuer stand, bis ihn ein Granatschuss zu Boden schlug. Der Splitter durchbohrte seinen Hals." Wenig später suchte der Vater im Lattengebirge bei Berchtesgaden den Tod. Hans Dülfer liegt auf dem Soldatenfriedhof von Bailleul an der belgisch-französischen Grenze begraben, weit weg von seinen geliebten Bergen.

© SZ vom 05.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: