Die Tille-Brüder:Zweierlei

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„Ferdinand war immer und ist immer noch mein großes Vorbild“: Herrschings Johannes Tille (r.) über seinen älteren Bruder. (Foto: Oryk Haist/Imago)

Ferdinand und Johannes Tille sind Herrschings Schlüsselspieler. Über ein gegensätzliches Paar, das sich spät auf dem Feld gefunden hat.

Von Sebastian Winter

Dass Ferdinand Tille mit seiner Freundin ziemlich zentral in München lebt, im Schlachthofviertel, ist gerade an diesem Donnerstag sehr praktisch. Der Libero von Herrschings Volleyballern fährt von hier aus gerade mal eine Viertelstunde nach Unterhaching, wo er mit seiner Mannschaft das mangels eigener regelkonformer Halle verlegte Heimspiel im Playoff-Viertelfinale gegen die Alpenvolleys Haching austrägt. Tille hat sich maßlos geärgert über das 0:3 im ersten Spiel der Best-of-three-Serie in Innsbruck, am Ende schlich der 30-Jährige nur noch mit hängendem Kopf übers Feld.

In Unterhaching müssen die Herrschinger gewinnen, um das dritte Spiel am Samstag in Innsbruck zu erreichen. Tille möchte es allen noch mal zeigen, ausgerechnet in Unterhaching, wo er einst mit Generali Haching über seine 1,85 Meter hinauswuchs, wo er zweimal den DVV-Pokal gewann, zum Nationalspieler und stärksten Libero der Weltmeisterschaft 2010 reifte. Vier Jahre später wurde er mit den deutschen Volleyballern WM-Dritter, es war sein bislang größter Erfolg. Nur die Olympiateilnahme fehlt ihm, was ihn schmerzt. Trainer Max Hauser sagt über seinen Defensivchef: "Ferdl ist einer der beiden besten Liberos in Deutschland, seine Annahme ist weltklasse."

Hauser sagt, Ferdinand erinnere ihn an den Roboter aus "Per Anhalter durch die Galaxis"

Das Problem ist nur: Weil er so gut ist, wird er von den Gegnern meist gemieden, sie visieren mit ihren Aufschlägen fast nur seine Nebenleute an. Er ist also so etwas wie der Manuel Neuer in der Pep-Guardiola-Zeit: quasi arbeitslos, aber wenn mal ein Ball auf ihn kommt, auch ein eigentlich unhaltbarer, muss er da sein. Das Schöne für Ferdinand Tille ist: Seit dieser Saison fällt seine Annahme dem eigenen Bruder in die Hände, Johannes. Der 21-jährige Steller ist im vergangenen Sommer von Solingen an den Ammersee gewechselt, nicht wegen Ferdinand, sondern weil Hauser ihn wollte. Nun bilden beide die Annahme-Zuspiel-Achse, eine der wichtigsten Verbindungen in diesem Sport. Es ist die erste Saison, in der beide gemeinsam auf einer Feldseite stehen - vergangenes Jahr, als Johannes für Solingen spielte, waren sie Gegner. "Sie sind Schlüsselspieler für mich, auch gegen die Alpenvolleys", sagt Hauser, "und sie sind typische Brüder: grundverschieden."

Ferdinand erinnere ihn immer ein wenig an Marvin, den leicht depressiven Roboter aus dem Film Per Anhalter durch die Galaxis, erzählt Hauser. Auf dem Feld kämpfe er wie ein Löwe, aber er könne auch destruktiv sein. Tille winkt dann ab, motzt, regt sich über den Gegner oder die Schiedsrichter auf, bekommt nicht selten gelbe Karten. "Johannes hält sich auf dem Feld ein bisschen zurück, aber ansonsten ist er kommunikativer. Er spricht mehr mit anderen, während Ferdinand vieles mit sich selbst ausmacht." Beide sind zugleich kreative Zocker, sie lieben die Aufwärmspielchen im Training, wo Hauser sie immer trennen muss, weil sie zusammen kaum zu schlagen sind. Während der Libero schon vieles hinter sich hat, Stationen im Ausland, 165 Länderspiele, ist Johannes gerade auf dem Sprung. Bis 2020 läuft sein Vertrag in Herrsching, danach möchte er ins Ausland - und ins Nationalteam.

Den Ehrgeiz und ihren Spielwitz haben sie in die Wiege gelegt bekommen; wie im Übrigen ihr Bruder Leonhard, 23, der auch erste Liga spielt - als Libero in Österreich bei Union Waldviertel. Und wie ihre Schwester Veronika, die nicht ganz so ambitioniert ist. Es gibt wohl kaum eine volleyballverrücktere Familie in Deutschland als die Tilles aus Mühldorf am Inn. Ihr Vater hat als Lehrer Talente in der Schule gefördert, Urlaub machten sie im Campingparadies Keutschacher See, wie so viele andere Volleyballer, und bauten dort ihre Netze auf. In ihrem Garten hing viele Jahre lang ein solches Netz, stundenlang spielten die Brüder dort, fast jeden Tag, bis ihre Mutter ganz bleich wurde wegen ihrer Rosen. Inzwischen ist das Netz einem Gewächshaus gewichen, das sie alle zusammen gebaut haben, und in dem der Hobbygärtner Leonhard Tomaten, Paprika und anderes Gemüse züchtet und erntet, was auch dem passionierten Hobbykoch Johannes hilft. Die Schneidebretter und anderes Zubehör fertigt er wiederum zusammen mit Ferdinand, sie schreinern für ihr Leben gern.

Johannes hat seinen Weg gefunden: eben nicht als Libero, sondern als Zuspieler

Man sieht manches Ergebnis auch in der großzügigen Wohnung im Schlachthofviertel, in der die beiden Brüder und Teamkollegen vor einer guten Woche am Küchentisch saßen, über dunklem Parkettboden, neben der offenen Küche, in der ein Wäscheständer darauf wartete, von seiner Kleidungslast befreit zu werden. Die Kommode hat Ferdinand gefertigt, das Bild mit den gelben, roten, grünen und blauen Formen über dem Sofa, auf dem Johannes manchmal nächtigt, auch. Die Schirmlampe im Wohnzimmer, mit Ginflasche als Fuß, hat ihm Veronika Anfang Dezember zum 30. Geburtstag geschenkt. "Leonhard und ich, wir waren wie Zwillinge. Ferdinand war ja schon fast aus dem Haus", sagt Johannes Tille am Küchentisch: "Aber Ferdinand war schon immer und ist immer noch mein großes Vorbild." Johannes hat zugleich seinen eigenen Weg gefunden, als Zuspieler in der höchsten deutschen Liga.

Und Ferdinand Tille? Der genießt seine Ratgeber-Rolle und den ewigen Status als großer Bruder. Und die Kommunikation mit Johannes klappt sowieso deutlich besser als beim Androiden Marvin, der einst sagte: "Die interessanteste Unterhaltung hatte ich vor über 34 Millionen Jahren. Und zwar mit einer Kaffeemaschine."

© SZ vom 04.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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