SZ-Serie "Alte Meister": Eisschnellläuferin Monika Gawenus:Endlich im Gleichgewicht

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Mit 17 Jahren gewinnt Monika Gawenus olympisches Gold im Eisschnelllauf. Es folgt eine lange, turbulente Karriere mit schweren Demütigungen und Verletzungen. Heute trainiert sie begabte Kinder in Ottobrunn und ist mit sich im Reinen

Von Matthias Schmid, Hohenbrunn

Monika Gawenus nimmt sich in Inzell regelmäßig ein Zimmer im Hotel. Das ist ungewöhnlich für jemanden, der wie sie in der Nähe des Eisschnelllaufzentrums eine Wohnung gekauft hat. Als Alterswohnsitz für später, wie sie mit einem Lächeln sagt. Doch Gawenus kommt schon jetzt wieder häufiger an den Wochenenden in den Chiemgau, als sie sich vor ein paar Jahren noch vorstellen konnte. Sie trainiert beim ERSC Ottobrunn zehn Kinder und Jugendliche, mit denen sie regelmäßig nach Inzell reist. Einer von ihnen ist Felix Motschmann, der in diesem Jahr die inoffizielle Jugend-EM gewonnen hat. Er war so schnell wie kein Deutscher seit 40 Jahren mehr. Ein Hochbegabter im Eisschnelllauf.

In dem Zwölfjährigen kann sich die 62-jährige Gawenus selber wiedererkennen, als sie noch so jung war und mit zwölf ihre Füße erstmals in Schlittschuhe steckte. Nur zum Spaß, ohne jeden Wettkampf. Zwei Jahre später sah sie im Fernsehen, wie der Inzeller Erhard Keller bei den Winterspielen in Grenoble Gold über die 1000 Meter errang. Davon inspiriert nahm sie an Schulmeisterschaften teil - und fuhr allen davon. Trainer und Lehrer staunten. Sie rieten ihr, sich einer Trainingsgruppe anzuschließen. Mit 16 zog sie in das für viel Geld errichtete Leistungszentrum der Eisschnellläufer nach Inzell. Nebenbei machte sie eine Lehre zur Buchbinderin.

Besucht man Gawenus heute in ihrem Reihenhaus in Hohenbrunn bei München, begegnet man einer Frau, die mit einem entspannten Lächeln auf das Vergangene zurückblickt. Sie hat Abstand gefunden zu ihrer Karriere. Sie ist mit sich im Reinen, sie reicht am Esszimmertisch Plätzchen und amerikanisches Gebäck. Sie rührt nichts davon an, fast so als müsste sie weiter in Askese leben. Sie hat noch immer die drahtige Figur. Sie bewege sich viel, sagt Gawenus. Vor allem Husky Kaja halte sie auf Trab. Auch das Training mit den Kindern tue ihr gut. Der Raubbau aus früheren Tagen hat glücklicherweise keine sichtbaren Beschwerden hinterlassen.

Im Wohnzimmer deutet nichts darauf hin, dass Gawenus mal eine große Sportlerin war, Olympiasiegerin in Sapporo im Alter von 17 Jahren mit ihrem Mädchennamen Monika Pflug. "Das ist mir nicht wichtig", sagt sie über ihren Erfolg 1972. Die Olympiamedaille liegt irgendwo in einem Schrank. Nur auf dem Weg in den Keller hängt ein Bild an der Wand, das sie im Sprintanzug auf Schlittschuhen zeigt. 23 Jahre mussten vergehen, bis sie wieder auf das Eisoval zurückkehrte. 23 Jahre nach ihrem Rücktritt. Das muss man sich mal vorstellen: Philipp Lahm hört auf und tritt nach 23 Jahren zum ersten Mal wieder gegen einen Ball. Eigentlich undenkbar.

Gawenus hat diese Zeit gebraucht. Im Nachhinein hatte sich die Flucht ins Ungewisse sogar als glückliche Fügung erwiesen. Drei Jahre lebte Monika Gawenus nach ihrem Abschied als Sportlerin im Saarland. In der Nähe von Saarbrücken ließ sich die damals 33-Jährige mit ihrem zweiten Ehemann, Fritz Gawenus, und ihren Kindern nieder, am Waldrand, ohne Nachbarn, vor allem ohne Eisbahn. Sie wollte einfach weit weg sein von Inzell. Von zu Hause. Während ihr Gatte studierte, ging sie in der neuen Rolle als Vollzeitmama auf. "Ich hatte von allem genug und wollte nur noch meine Ruhe haben", sagt Gawenus heute. In ihrem Fall gierte nicht nur ihr Kopf nach der Zurückgezogenheit in der Fremde, vor allem ihr an Sehnen und Bändern reparierter Körper hatte nach einer langen Eisschnelllauf-Karriere eine Auszeit nötig.

Die Winterspiele 1988 im kanadischen Calgary sollten der Schlusspunkt einer glanzvollen Karriere werden. Es waren ihre fünften. In Wirklichkeit wurden es die traurigsten Tage in der Laufbahn der in jungen Jahren so gefeierten Eisschnellläuferin, der Olympiasiegerin von Sapporo. Nachdem sie im Olympic Oval von Calgary über 500 Meter mit Bestzeit den siebten Platz belegt hatte, verzichtete sie auf die 1000 Meter. Sie konnte nicht mehr. "Ich hätte die erste Kurve nicht mehr stehen können", sagt Gawenus. Die Muskeln im linken Bein waren verklebt, die Schmerzen unerträglich, jeder Schritt eine Qual.

Nach drei Jahren verließ sie das Saarland wieder in Richtung Bayern. Sie hat zwei weitere Kinder geboren und sich ins Familienleben zurückgezogen. "Ich war lange Zeit die typische Taxi-Mama." Erst als sie 2011 im Holland-Urlaub ihren alten Bundestrainer Ab Krook traf, wurde sie unruhig. "Ich wollte die neuen Klappschuhe ausprobieren", erzählt sie. Sie begann zu laufen. Erst eine Runde, dann zwei Runden, drei. Die Leidenschaft war schnell zurück. Und diese Hingabe für ihren Sport gibt sie an ihre begabten Jugendlichen weiter. Gawenus sagt: "Ich verlange sehr viel von ihnen, weil wir Leistungs- und keinen Breitensport machen."

Felix Motschmann könnte wie sie mal als Außenseiter zu den Winterspielen reisen. Gawenus gefiel diese Rolle damals in Sapporo. Platz fünf war ihr Ziel, obwohl sie alle deutschen Rekorde hielt. "Ich war ein junges Ding und habe mir nicht angemaßt, eine Medaille zu gewinnen", sagt sie im Rückblick. Als sie über 500 Meter tatsächlich Fünfte wurde, wettete Keller darauf, dass sie über die doppelte Distanz eine Medaille erringt. Gawenus siegte. Sie kann sich an die Stunden danach erinnern. An den Trubel. Daran, dass jeder etwas von ihr wollte. Ihr war alles zu viel. Die Fotografen, die Kameras, die Journalisten und Schulterklopfer. Die öffentliche Zuneigung, die Liebe der Fans, das alles traf sie unvorbereitet. "Ich legte mich am Mittag erst mal zwei Stunden ins Bett", sagt Gawenus. Selbst das Glückwunschtelegramm von Walter Scheel, dem damaligen Außenminister, überforderte sie. "Der Scheel Walter, wer is das denn", fragte sie irritiert.

Wieder in München, fing der Wahnsinn erst so richtig an. Direkt vom Flughafen wurde die Olympionikin in die Stadt gefahren, wo Ministerpräsident Alfons Goppel sehnsüchtig auf die "Gold-Moni" wartete. Gawenus, die wenige Wochen später den Weltmeistertitel im Sprintvierkampf holte, war aber nie das niedliche kleine Gold-Mädchen, für das sie alle hielten, im Gegenteil. Sie entwickelte sich zu einer Rebellin, zum Funktionärsschreck, weil sie sich lautstark darüber beschwerte, wie der Verband die Gelder verteilte, die er durch ihre Erfolge einnahm. "Ich habe nicht eingesehen, warum ich für die anderen Athleten laufen sollte", sagt Gawenus.

Daher dürften einige Verbandsmitarbeiter wenig traurig gewesen sein, als sie ihre Karriere 1976 erstmals aus gesundheitlichen Gründen beendete, nach Platz fünf über 1000 Meter bei den Olympischen Spielen von Innsbruck. Ein Jahr lang war sie wegen eines schlimmen Rückenleidens arbeitsunfähig. Aus der kraftstrotzenden Sportlerin war eine Frau geworden, die ohne Hilfe nicht mehr durchs Leben kam. "Aus der gebückten Haltung bin ich nicht mehr allein hochgekommen", erinnert sich Gawenus. Eine Operation wäre zu riskant gewesen. Der Ausweg? War eine Schwangerschaft. Zumindest glaubten das die Ärzte. Wie auf wundersame Weise waren die Schmerzen danach tatsächlich verflogen.

Sie heiratete Franz Holzner. Ihre erste Tochter kam im April 1978 zur Welt. Gawenus begann wieder zu trainieren. Obwohl ein Jahr später ihr Sohn geboren wurde, nahm sie 1980 an den Winterspielen in Lake Placid teil. Von früheren Erfolgen war sie Lichtjahre entfernt. Ohne Training lief sie hinterher. Spott begleitete sie. Ein Rücktritt kam dennoch nicht infrage. Nicht so. "Ich wollte es nicht den anderen, sondern vor allem mir selbst beweisen", erklärt sie. Sie machte weiter, bis Calgary.

Heute kämen ihr die guten alten Erinnerungen an die erste Karriere häufiger in den Sinn, erzählt Gawenus, sie wärmten ihre Seele wie eine mollige Decke. Sicher ein Grund, wieso sie mit ihrem Mann, ebenfalls ein ehemaliger Eisschnellläufer, die Wohnung in Inzell gekauft hat. Dort, wo alles begann. Auch ihr ist das fast schon zu sentimental. Vielleicht zieht sie ja auch deshalb noch das Hotel der Wohnung vor.

Bisher erschienen: Horst Schwanke (10.9.), Daniel Brode (7.9.), Sebastian Gimbel (3.9.), Karl-Heinz Schulz (31.8.), Norbert Wagner (27.8.), Gerd Coldewey (25.8.), Norbert Demmel (19.8.), Gerd Biendl (18.8.), Carlo Thränhardt (9.8.), Rudi Vogt (6.8.), Michael Hahn (4.8.), Monika Schäfer (30.7.), Kurt Szilier (28.7.), Andrea Eisenhut (23.7.)

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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