Selbsthilfe für schüchterne Münchner:"Angst, dass alle tuscheln"

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Herzklopfen, zitternde Hände, Schweißausbrüche: In der Selbsthilfegruppe "Soziale Angst" kämpfen Münchner gegen ihre Schüchternheit. Ein Besuch.

Anna Fischhaber

"Plötzlich richteten sich alle Blicke auf mich und ich wusste nicht mehr, was ich sagen soll!" Mathias (alle Namen von der Redaktion geändert) spielt nervös mit seinen großen Händen im Schoß, sein Blick ist starr auf den grauen Linoleumboden gerichtet. Am liebsten würde der stattliche Mann mit dem Schnauzer in diesem Moment im Erdboden versinken. Es fällt ihm schwer, über seine Schüchternheit zu sprechen. Dabei wollte er nur einem Freund einen anderen Bekannten im Biergarten vorstellen. Doch für Mathias ist das ein schier unüberwindbares Unterfangen. "Ich weiß einfach nicht, wie man so etwas macht." Er zuckt traurig mit den Schultern.

Acht Prozent der Deutschen leiden angeblich unter sozialer Angst. (Foto: Foto: iStock)

Soziale Angst nennen Experten die Schwäche unter der Mathias leidet. Jeden Montag trifft er sich mit anderen Betroffenen in einem kleinen Raum unter dem Dach des Münchner Selbsthilfezentrums in der Westendstraße, um an seinem Selbstbewusstsein zu arbeiten. Sechs Münchner, alle weit über 40 Jahre alt, sind diesmal zu dem Treffen gekommen. Doch es sind nicht die großen Fragen des Lebens, die hier besprochen werden, sondern die kleinen alltäglichen Probleme, die den Teilnehmern das Leben Tag für Tag erschweren.

"Man geht schwierigen Situationen aus dem Weg"

Das Herz klopft, die Hände zittern, langsam färbt sich das Gesicht rot und röter: Unsicherheiten in Situationen, in denen man plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, kennen viele. Bei Menschen mit sozialer Angst spricht man von einer extremen Schüchternheit bis hin zur Phobie, die die Betroffenen im täglichen Leben einschränkt - beim Sprechen vor anderen, beim Kennenlernen von Fremden, beim Smalltalk mit Verkäufern und sogar beim Essen in der Öffentlichkeit. Rund acht Prozent der Deutschen leiden laut Schätzungen unter sozialer Angst.

"Man geht schwierigen Situationen aus dem Weg und zieht sich immer weiter zurück bis man mit der Welt nicht mehr zurechtkommt", erklärt Peter, der seit sechs Jahren dabei ist. "Wir sprechen über die Situationen, in denen wir uns gehemmt fühlen, und versuchen mit Rollenspielen neue Verhaltensweisen zu finden." Dann geht es los: Ein älterer Herr will Telefonieren üben, er ist wütend, weil ein Glücksspielunternehmen ständig anruft und er es nicht schafft, die Belästigung zu beenden. Eine zerbrechliche wirkende Frau mit kurzen grauen Haaren will endlich "Nein" sagen können: Schon wieder hat sie einer Bergtour zugestimmt, obwohl sie Höhenangst hat.

In München gibt es kaum eine Schwäche, für die es keine Selbsthilfegruppe gibt. Woche für Woche treffen sich in der Westeendstraße chronisch Kranke, Rollenspielsüchtige und Opfer der Finanzkrise - Menschen mit demselben Problem schließen sich zusammen, in der Hoffnung, dass sie durch gemeinsame Gespräche mit ihrer Situation besser klar kommen. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts engagieren sich in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen in bis zu 100.000 Selbsthilfegruppen. Die Münchner Gruppe "Soziale Angst" existiert seit zehn Jahren.

"Ich war schon als Kind extrem schüchtern und das hat sich leider nicht gegeben, sondern ist immer schlimmer geworden", erzählt Peter. Wie viele Menschen mit wenig Selbstbewusstsein habe er sich oft automatisch als Verlierer gefühlt. Ingrid hat dagegen erst beim Studium gemerkt, dass sie sich nicht traut, mit Professoren zu sprechen. Überhaupt habe sie Probleme mit Vorgesetzen. Auch die Nachbarn nähmen sie nicht ernst, neulich habe jemand ihren Fahrradsattel aus dem Keller geklaut. An diesem Montag hat sie ein Erfolgserlebnis zu vermelden: Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie bei der Polizei, um sich für ihre Rechte einzusetzen.

"Ich habe das Gefühl, dass mir die Gruppe dabei geholfen hat. Hier kann ich probieren, wie ich sein möchte", sagt Ingrid und lächelt. In ihrem Freundeskreis wollte niemand ihr Problem verstehen. Peter hat ähnliche Erfahrungen gemacht. "Die eigenen Ängste sind ein schwieriges Thema. Die Menschen wollen darüber nicht sprechen", sagt er. Wenn er von seiner Schüchternheit erzählt habe, habe er oft gehört "Stimmt doch gar nicht!" oder "Reiß dich mal zusammen!". Heute weiß er: "Das Problembewusstsein dafür fehlt in unserer Gesellschaft."

Mathias will trotzdem nicht aufgeben. Beim Rollenspiel nimmt er allen Mut zusammen und sagt laut: "Ich habe heute den Eberhard dabei." Als sich alle Blicke auf ihn richten, wird der große Mann mit dem grünen Hemd wieder unsicher: "Klang das nicht zu spießig?", fragt er. Die anderen versuchen ihn zu beruhigen. "Ich habe einfach Angst, dass dann alle tuscheln", sagt Mathias. Dennoch will er beim nächsten Biergartenbesuch den Schritt wagen - und seinen Freund endlich anderen Bekannten vorstellen.

Mehr Informationen beim Selbsthilfezentrum München, Westendstraße 68, 80339 München. Telefon: 089/53295611, im Internet unter www.shz-muenchen.de

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