SZ-Serie: Bühne? Frei!:Reduzieren, was krank macht

Lesezeit: 2 min

Der 1970 in Bad Tölz geborene Sebastian Horn ist seit 1987 Bassist und Sänger der "Bananafishbones". 2013 gründete er das Duo "Dreiviertelblut". Im BR moderiert Horn die Sendung "Heimatsound". (Foto: Severin Schweiger)

Kultur-Lockdown, Tag 2: Der Bassist und Sänger erzählt, warum die Wahrheit sein muss

Gastbeitrag von Sebastian Horn

Ich erzähle immer die Wahrheit. Mit Flunkereien, Übertreibungen und wissenschaftlichem Halbwissen. Also nicht die Wahrheit, sondern eine Form von momentan gefühlter Wahrheit. So würde ich vor unserem Lied "Wahrheit" heute wohl erzählen, wie ich in der Küche stand und laut The Cure beim Kochen gehört hab. In diesem Zustand meditativer Vergnügung rückt mich das Lied "Charlotte Sometimes" aus meiner Wohlfühlzone, und mir laufen die Tränen. Das passiert mir gerne mal. Nur da war es verbunden mit einer Erinnerung an Weihnachten. An meinen Vater. Die Toccata von Bach laut aufgelegt, und er weint. Ich hab ihn nie vorher weinen gesehen. Und in dem Moment war ich der Vater und sein Leid. Dann taucht tröstend der Satz von Viktor Frankl aus seinem Buch "Trotzdem ja zum Leben sagen" auf: "Jeder trägt sein Auschwitz in sich." Das ist eine Wahrheit. Und wir glauben sie zu wissen.

Dann rette ich mich auf der Bühne durch: "Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd." Oder: "Die Wahrheit ist wie ein Bauernmädchen. Ungeschminkt am schönsten." Und die Leute lachen dann und vergessen, was ich davor Intimes verraten hab. Lachen ist ja ein wundervolles Ding, mit Wahrheit umzugehen und sie zu umgehen. Dann kommt eine Anekdote meiner Tochter Mathilda, die auf dem Spielplatz mit ihrem Handy Musik hört und von einer Mutter ang'ranzt wird, dass sie die Kanakenmusik ausmachen soll. Früher hieß das noch Negermusik, aber die Menschheit geht halt mit der Zeit. Da wird dann auch gelacht. Obwohl das gar nicht witzig ist.

Vor unserem Hanfgärtner-Lied "Schwupp Marie" hab ich eine Ackeranekdote. Diesmal nicht über das Nacktschneckenzerschneiden (immer ein Ankommer), nein, saisonbedingt geht es um das Franzosenkraut. Ein Unkraut der besonderen Art. Unbesiegbar und überall. Doch auf meinem Acker: ultraviel. Und wie ich da so körbeweise dieses Kraut ausrupfe, denk ich drüber nach, dass es wie mit einer Krankheit ist. Sie ist omnipräsent. Also in jeder Stadt, an der Raststätte, in Parks also wirklich über-überall, nur ist sie dort meist durch andere Pflanzen-Konkurrenz eingeschränkt. Und wir Menschen müssen erreichen, der Krankheit nicht Acker zu sein, sondern ein nahezu unbezwingbares Ökosystem. Dass wir die uns krank machenden Faktoren reduzieren müssen. Dass es an der Zeit ist, gesunde Ökobio-Nahrungsmittel und Kleidung für alle erschwinglich und verfügbar zu machen. Doch dann fällt mir ein, dass der Mensch an sich das schlimmste Franzosenkraut auf dieser Erde ist. Als letztes erzähle ich vor "Rundummadum", dass ich Polizeikontrollen ganz, ganz schlimm finde. Und dass ich nach dem letzten Dreiviertelblut-Open-Air, an dem mir Martina Schwarzmann eine Krause Glucke geschenkt hat (eine Art Korallenpilz), mit meinem rostigen, alten Golf auf dem Nachhauseweg in eine eben solche Kontrolle geriet. Taschenlampe ins Gesicht, Führerschein, Fahrzeugpapiere, ob ich was getrunken hab und wo ich herkomme und "Ja, was ist das denn?" Auf der Rückbank im Karton die Krause Glucke. "Eine Krause Glucke!? Hab ich noch nie gesehen!" Seine Kollegin auch nicht. Plötzlich stehen wir da in Lenggries am Straßenrand und bewundern diesen Pilz. Und dann wünschen wir uns noch eine gute Nacht und fahren glücklich nach Hause.

© SZ vom 03.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: