Schwerer Behandlungsfehler:Tumor übersehen

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Weil ein Chefarzt bei einer 72-Jährigen trotz Krebsdiagnose einen bösartigen Tumor übersehen hat, musste acht Mal nachoperiert werden.

Ekkehard Müller-Jentsch

Weil der Chefarzt eines städtischen Klinikums vor einer Bauchoperation nicht so genau wusste, was er eigentlich herausschneiden sollte, musste seine Patientin zweimal operiert werden - beim ergänzenden Eingriff in einer Uni-Klinik dann mit verheerenden Folgen. Im Schmerzensgeldprozess vor dem Landgericht München I hat nun ein medizinischer Sachverständiger erklärt, dass dieser grobe Kunstfehler auch auf das Gesundheitssystem und die daraus resultierende Überlastung des Klinikpersonals zurückzuführen sei. Der betroffene Chefarzt stand vor Gericht trotzdem zu seiner persönlichen Verantwortung: Dass dieser Fehler passiert ist, sei "eine Katastrophe".

Ein Chefarzt hat bei einer 72-Jährigen eine Bauchoperation durchgeführt, ohne einen bösartigen Tumor zu entfernen. Die Patientin leidet schwer unter den Folgen des groben Behandlungsfehlers. (Foto: Foto: AP)

Ein niedergelassener Arzt aus dem Kreis Fürstenfeldbruck hatte seine heute 72-jährige Patientin mit einem Darmkrebsbefund extra zu diesem Chefarzt in das Münchner Krankenhaus geschickt, weil der einen hervorragenden Ruf als Bauchchirurg genießt. Tatsächlich hatte der Professor den von ihm durchgeführten Eingriff auch ohne Komplikation abgeschlossen. Allerdings war bei dieser OP nur ein Stück Dünndarm mit einem gutartigen Polypen entfernt worden. Von der tiefer sitzenden bösartigen Geschwulst im Dickdarm hatte der Arzt nichts gewusst: Er hatte sich auf die Angaben seines Ober- und des Stationsarztes verlassen und die sich wiederum auf falsche Höhenangaben des niedergelassenen Arztes.

Erst eine Nachkontrolle deckte den Behandlungsfehler auf

Erst Monate später fiel diese Schlamperei bei einer Nachkontrolle auf. Weil sie nun das Vertrauen in den städtischen Chefarzt verloren hatte, ließ sich die Frau den eigentlichen Krebstumor in einer Münchner Uni-Klinik rausschneiden. Nach dieser OP platzte allerdings die Naht, mit der die betroffene Stelle im Darm geflickt worden war. Die Folgen waren furchtbar: Achtmal musste die Frau nachoperiert werden und hat bis heute einen künstlichen Darmausgang - die 72-Jährige leidet sehr.

Über dieses Risiko war sie jedoch in der Uni-Klinik aufgeklärt worden, und da dieser Verlauf offenbar "schicksalhaft" war, gibt sie nun dem städtischen Professor die Schuld: Wenn der gleich korrekt operiert hätte, wäre der zweite Eingriff mit seinen schrecklichen Folgen gar nicht notwendig gewesen. Durch ihre Rechtsanwältin Katharina Waibl forderte die Seniorin rund 70.000 Euro Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Die Arzthaftungskammer am Landgericht MünchenI hatte als Gerichtsgutachter den Rosenheimer Chefarzt Professor Peter Wagner beauftragt. "War es ein grober Fehler?", fragte ihn der Vorsitzende Richter Thomas Steiner. "Der Operateur wusste nicht genau, was Sache ist - beim ersten Hinsehen empfand ich das als unbegreiflich", antwortete der Experte. Denn der Einweisungsbefund sei die elementare Voraussetzung für eine OP. Dass der Tumor vom einweisenden Arzt in falscher Höhe angegeben war, sei auch nichts Ungewöhnliches: "Das kennt man, darauf muss man als Operateur reagieren."

Doch dann habe er sich die Situation in Krankenhäusern bewusst gemacht. "Vor 30 Jahren wäre so etwas noch nicht vorgekommen", erklärte Wagner. Fehler wie diese seien auf die heutige Arbeitsplatzsituation in chirurgischen Kliniken zurückzuführen: Ohne personellen Ausgleich habe sich der Arbeitsaufwand um wenigstens 20 Prozent "verdichtet". Dazu komme noch ein "Bürokratieschub, wie es ihn weltweit sonst so nicht gibt." Es sei auch ein Irrtum zu glauben, dass abgebaute Krankenbetten und geschlossene Abteilungen weniger Patienten bedeuten - "eher im Gegenteil".

Zu dem konkreten Fall meinte er, dass sowohl der assistierende Oberarzt wie auch der Stationsarzt den Befund der Patin gekannt haben müssen - aber nicht einmal beim Schreiben des Arztbriefes sei den Beteiligten aufgefallen, dass man zwar "eine saubere Operation" durchgeführt, aber dabei das Hauptproblem nicht entfernt habe. Dies sei symptomatisch für die typische Arbeitsüberlastung in jedem deutschen Krankenhaus. Aber trotz allem müsse ein Operateur natürlich zwingend wissen, was der Befund vorgebe.

Der beklagte Chefarzt erklärte, dass er sich vor einer OP auf die Vorbereitungen und Angaben seines Teams verlassen können müsse, "so wie ein Pilot mit seiner Mannschaft". Aber er trage dafür die Verantwortung und dazu stehe er auch. "Ich kann es nicht entschuldigen, nur zu erklären versuchen", sagte der Professor. Denn eine Operation am offenen Herzen sei nur halb so gefährlich wie eine Dickdarm-OP, und niemand in Deutschland habe so viele Rektum-Karzinome operiert wie er. "Jetzt bin ich zum ersten Mal Angeklagter", meinte er. Er empfinde diesen Vorfall auch als persönliche Niederlage.

In der Verhandlung wurde darum gestritten, ob die zweite Operation für die Patientin ein doppeltes Risiko bedeutete, das der städtische Professor verantworten müsse. Oder ob es sich nur "aufgespalten" hat, wie der Anwalt des Arztes, Götz Tacke, meint. "Auch wir haben diese Problematik heftig intern diskutiert", sagte der Vorsitzende und stellte fest, dass man über solch einen Fall trefflich bis zum Bundesgerichtshof streiten könne. Die Kammer schlug den Parteien vor, sich auf einen Betrag zwischen 10.000 und 15.000 Euro zu vergleichen. Andernfalls will das Gericht am 24. Februar ein Urteil verkünden.

© SZ vom 25.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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